25.
Wie soll sodann (499,9) jenes Wort, das den Alten gesagt wurde (exod. 21,24): Aug um Aug, Zahl um Zahn, im Widerspruch stehen zu dem, was der Herr sagte (Mt. 5,39): Ich aber sage euch: leistet dem Bösen keinen Widerstand; wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halte ihm auch die andere hin, u.s.w.? Auch jenes alte Gebot wurde doch erlassen, um die Flammen des Hasses niederzuschlagen und die unbeherrschte Wut zorniger Gemüter zu bändigen! Wer gibt sich denn so leicht damit zufrieden, seine Rache genau auf das Unrecht abzustimmen, das er empfangen hat? Sehen wir nicht, wie Menschen, die nur leicht gekränkt wurden, auf Mord sinnen, nach Blut dürsten und sich kaum sättigen können am Leid ihres Widersachers? Jeder ruft doch, wenn er von einer Faust getroffen wurde, das Gericht an, um den Schläger seiner Strafe zuzuführen, oder aber er will selber Vergeltung üben und verbläut den Mann mit Fausthieben und Fusstritten von Kopf bis Fuss, wenn er nicht gar eine Waffe zu Hilfe nimmt. Um diese masslose und damit ungerechte Rache auf ein gerechtes Mass zurückzuführen, hat das Gesetz das Talio-Prinzip eingeführt, was bedeutet, dass ein jeder nach Massgabe des verübten Unrechts Strafe empfängt. Also ist das Prinzip Aug um Aug, Zahn um Zahn nicht Zunder für die Rachelust, sondern deren Eindämmung; es wurde nicht eingesetzt, um die Glut, die am Erlöschen ist, neu anzufachen, sondern um zu verhindern, dass das lodernde Feuer weiter um sich greift. Es gibt nämlich ein gerechtes Mass an Vergeltung, das dem, der Unrecht erlitten hat, gerechterweise zuzubilligen ist. Wenn wir also verzeihen, geben wir gewissermassen freiwillig etwas von unserem Recht ab. Daher wird die Verzeihung ja auch als Schuldenerlass bezeichnet, den wir als Menschen gemäss der Mahnung im Herrengebet gewähren sollen, damit auch unsere eigenen Schulden von Gott erlassen werden (cf. Mt. 6,12). Doch ist es nicht ungerecht, eine Schuld einzufordern, auch wenn es ein Merkmal der Güte ist, sie zu erlassen. Was aber beim Schwören gilt, dass auch jemand, der wahrheitsgetreu schwört, sich in die Nähe des Meineids begibt (522,9), während derjenige, der überhaupt nicht schwört, in sicherer Distanz dazu bleibt, und dass jemand, der wahrheitsgetreu schwört, zwar nicht sündigt, aber sich der Gefahr zu sündigen doch stärker annähert, als der, welcher nicht schwört (522,4) – die Warnung vor dem Schwören (lev. 19,12) ist also ein Schutz vor der Sünde des Meineids –, das gleiche gilt nun auch in der Frage der Vergeltung: zwar sündigt nur der, welcher in seiner Forderung nach Vergeltung weder Mass noch Gerechtigkeit kennt, nicht aber der, welcher eine massvolle und gerechte Vergeltung fordert, doch weniger in Gefahr, sich durch eine ungerechte Vergeltung zu versündigen, ist der, welcher überhaupt keine Vergeltung fordert. Sünde ist es nämlich, über das Geschuldete hinaus Forderungen zu stellen; keine Sünde dagegen ist es, das Geschuldete einzufordern; doch weitaus geringer ist die Gefahr, sich durch eine ungerechte Schuldeintreibung zu versündigen, wenn man die Schuld überhaupt nicht einfordert, zumal man ja von dem, den man unrechtmässig belangt, selber schuldpflichtig gemacht werden könnte. In der Frage der Vergeltung könnte also auch ich formulieren: Den Alten wurde gesagt: ‛Du sollst nicht ungerecht Vergeltung üben’; ich aber sage euch: übt überhaupt keine Vergeltung. Das ist die Vollendung des Gebotes, so wie Faustus in Bezug auf das Schwören sagte (499,4): ‛Es wurde gesagt: Du sollst nicht falsch schwören; ich aber sage euch: Schwört überhaupt nicht’ (Mt. 5,33); auch das ist die Vollendung des Gebotes. So also könnte auch ich formulieren; doch meiner Meinung nach war es ja nicht die Absicht Christi, mit jenen Zusatzworten (Mt. 5,38) dem Gesetz etwas zuzufügen, was diesem vorher fehlte, er wollte vielmehr darauf hinweisen, dass die Forderung des Gesetzes, sich nicht durch ungerechte Vergeltung zu versündigen (exod. 21,24), sicherer erfüllbar ist, wenn man gänzlich auf Vergeltung verzichtet, so wie er auch bei jener anderen Forderung des Gesetzes, sich nicht durch falsches Schwören zu versündigen (lev. 19,12), darauf hinwies, dass sie sicherer erfüllbar ist, wenn man überhaupt nicht schwört (cf. 526,5). Wenn nämlich die zwei Aussagen: Aug um Aug (exod. 21,24) und: Wenn einer dich auf die Wange schlägt, halte ihm auch die andere hin (Mt. 5,39) im Widerspruch zueinander stehen, warum sollte das gleiche nicht auch für diese beiden Aussagen gelten: Du sollst dem Herrn gegenüber deinen Schwur einhalten (cf. Num. 30,3; deut. 23,22), und: Du sollst überhaupt nicht schwören (Mt. 5,43)? Letzteres aber betrachtet Faustus nicht als Zerstörung, sondern als Vollendung des alten Gebotes, wie er es auch im ersten Fall (Mt. 5,39) tun sollte. Denn wenn das Gebot: Du sollst wahrheitsgetreu schwören! seine Vollendung findet im Gebot: Du sollst nicht schwören! , warum sollte dann das Gebot: Sei gerecht in deiner Vergeltung! nicht ebenso im Gebot: Übe keine Vergeltung die Vollendung finden? So erkenne ich selber in beiden Geboten Christi einen Schutz gegen die Sünde, sei es des Meineids, sei es der ungerechten Vergeltung, wobei allerdings jenes Gebot, das den gänzlichen Verzicht auf Vergeltung verlangt, den zusätzlichen Effekt hat, dass wir durch solches Vergeben der Schulden Vergebung unserer eigenen Schulden erlangen können (526,2. 15). Doch musste dem verhärteten Volk zuerst eine massvolle Schranke gesetzt werden, durch die es lernen sollte, seine Forderungen nicht über das Geschuldete hinaus auszudehnen, damit später, wenn einmal der Jähzorn, der zu massloser Vergeltung antreibt, eingedämmt sein wird, ein jeder, der dazu bereit ist, sich in ruhiger Stimmung überlegen kann, welche Schuld auf ihm selber lastet, deren Erlass er sich vom Herrn wünscht, um dann nach dieser Überlegung seinem Mitsklaven die Schuld zu erlassen.
