24.
Denn auch hier frage ich die Manichäer, warum sie etwa das Gebot, das den Alten gegeben wurde (cf. Lev. 19,18 /Mt. 5,43): Liebe deinen Nächsten und hasse deinen Feind! als Eigentümlichkeit des mosaischen Gesetzes ansehen wollen. Sagte nicht auch der Apostel Paulus cf. Rm. 1,30), dass gewisse Menschen Gott verhasst seien? Und der Herr selber fordert uns ja in jener Mahnrede (Mt. 5,43 ff.) eigens dazu auf, Gott nachzuahmen. Er sagte da (ib. 45): Damit ihr Söhne eures Vaters seid, der im Himmel ist, der seine Sonne über Guten und Bösen aufgehen lässt, und der über Gerechte und Ungerechte regnen lässt. Es gilt also zu untersuchen, wie sich das verstehen lässt, dass man, um dem Beispiel Gottes zu folgen, dem ja nach den Worten des Paulus (cf. Rm. 1,30) gewisse Menschen verhasst sind, seine Feinde hassen muss, gleichzeitig aber, wiederum nach dem Beispiel Gottes, der seine Sonne über Guten und Bösen aufgehen lässt, und der über Gerechte und Ungerechte regnen lässt (Mt. 5,45), seine Feinde lieben muss. Dabei wird sich herausstellen, dass der Herr den Menschen, die jenen Satz: Hasse deinen Feind (cf. Lev. 19,18) missverstanden, beibringen wollte, ihre Feinde zu lieben, was sie überhaupt nicht kannten. Wie aber beide Forderungen gleichzeitig zu verwirklichen sind, wird Gegenstand einer langen Erörterung sein. Zuerst aber wenden wir uns an die Manichäer, – denen es ja grundsätzlich missfällt, wenn jemand seinen Feind hasst –, mit Fragen, die ihnen Kopfzerbrechen bereiten werden, zum einen, ob ihr Gott das Volk der Finsternis liebt, zum andern, warum man seine Feinde, die man eurer Theorie zufolge lieben muss, weil sie einen Anteil des Guten in sich haben, eben deshalb nicht auch hassen muss, weil sie einen Anteil des Bösen in sich haben. Folgt man nämlich dieser Richtschnur, löst sich auch unser Problem, dass in der Alten Schrift gesagt wird (cf. Lev. 19,18): Hasse deinen Feind!, im Evangelium dagegen (cf. Mt. 5,45): Liebet eure Feinde!, und der Widerspruch zwischen beidem erweist sich als nur scheinbar, weil jeder dieser böswilligen Menschen im Hinblick darauf, dass er böswillig ist, unseren Hass, im Hinblick darauf, dass er ein Mensch ist, dagegen unsere Liebe verdient. Wir verurteilen also das, was wir an ihm zu Recht verabscheuen, nämlich seinen sittlichen Mangel, damit das, was wir an ihm zu Recht lieben, nämlich seine eigentliche menschliche Natur, diesen Mangel korrigieren und sich von ihm befreien kann. Dies also ist, ich sagte es bereits (523,8), die Richtschnur, nach der wir den Feind hassen, nämlich aufgrund dessen, was an ihm schlecht ist, also seiner Böswilligkeit, und nach der wir den Feind lieben, nämlich aufgrund dessen, was an ihm gut ist, also seiner gemeinschaftsbezogenen und vernunftbegabten Geschöpflichkeit. In einer Frage allerdings unterscheiden wir uns von den Manichäern, indem wir selber überzeugend darlegen können, dass der Mensch nicht von seiner Natur her – sei das nun seine eigene oder eine ausserhalb von ihm liegende Natur – schlecht ist, sie dagegen glauben, dass der Mensch schlecht ist aufgrund der Natur des Volks der Finsternis, vor dem laut eigener Darstellung ihr Gott, als er noch vollständig war, in Furcht geriet, bevor er dann in Teilen besiegt wurde, und in jenen Teilen so gründlich besiegt wurde, dass er nicht mehr als Ganzer die Freiheit zurückgewinnen konnte. Die Menschen hörten also, ohne es zu verstehen, wie den Alten gesagt wurde (lev. 19,18): Hasse deinen Feind, und sie liessen sich dazu hinreissen, den Menschen als Ganzes zu hassen, wo sich doch nur dessen sittliche Mängel hassen sollten. Der Herr aber weist sie mit den Worten auf den richtigen Weg (Mt. 5,43): Liebet eure Feinde! Damit hat er, der ja schon gesagt hatte (Mt. 5,17): Ich bin nicht gekommen, das Gesetz aufzuheben, sondern es zu vollenden, auch das, was im Gesetz über den Feindeshass geschrieben ist (cf. Lev. 19,18), nicht aufgehoben, uns aber mit dem Gebot, die Feinde zu lieben (Mt. 5,43), zur Überlegung gezwungen, wie es möglich sein könnte, ein und denselben Menschen wegen seiner Schuld zu hassen und wegen seiner Natur zu lieben. Dies zu begreifen wäre nun allerdings für den irregeleiteten Geist der Manichäer zu schwierig. Man muss sie aber wenigstens dazu drängen, ihren Gott mit der heillosen Methode – oder soll man besser von Wahnsinn sprechen? – ihrer sophistischen Verdrehungskunst zu verteidigen. Dass dieser das Volk der Finsternis geliebt habe (523,5), können sie ja wohl nicht behaupten, und sie haben daher in ihm kein Musterbeispiel für ihre Mahnung, dass jeder seinen Feind lieben solle. Denn eher noch als ihrem eigenen Gott könnten sie dem Volk der Finsternis Feindesliebe zubilligen. Dieses Volk war ja, folgt man ihrer albernen Darstellung, begierig nach dem ihm unmittelbar benachbarten Licht, es wollte in seinen Genuss kommen und plante deshalb, um das zu erreichen, einen Überfall. Nun ist ja nichts Schuldhaftes daran, wenn jemand das wahre und glückbringende Gut anstrebt. Daher sagt auch der Herr (Mt. 11,12): Dem Himmelreich wird Gewalt angetan, und die Gewalttätigen werden es an sich reissen. So wollte also das Volk der Finsternis laut dieser Lügengeschichte jenem Gut, an dem es Gefallen gefunden hatte, Gewalt antun und es an sich reissen, angelockt durch dessen Glanz und Schönheit. Euer Gott aber erwiderte diese Zuneigung nicht, im Gegenteil, er empfand nur Hass und Abscheu und setzte alles in Gang, um das Volk, das doch nur in den Genuss seines Lichtes kommen wollte, von Grund auf zu vernichten. Wenn nun also die Bösen Zuneigung zum Guten empfinden, aus dem Wunsch heraus, in seinen Genuss zu kommen, die Guten aber Abneigung gegen das Böse, aus Furcht, von ihm besudelt zu werden, dann antwortet, ihr Manichäer, wer von den beiden erfüllt, was der Herr forderte (Mt. 5,43): Liebet eure Feinde! Da habt ihr es: Wenn ihr die beiden Leitsätze (lev. 19,18; Mt. 5,43) als für sich dastehende und sich gegenseitig widersprechende Aussagen ansehen wollt, dann hat euer Gott getan, was im Gesetz des Moses steht (lev. 19,18): Hasse deinen Feind!, das Volk der Finsternis aber das, was im Evangelium steht (Mt. 5,43): Liebet eure Feinde! Allerdings ist es euch trotz eurer Erfindungsgabe nicht gelungen, die Streitfrage um die Fliegen, welche das Licht suchen, und den Motten, welche das Licht scheuen, zu lösen. Beide entstammen ja, wie ihr behauptet, dem Volk der Finsternis. Wie kommt es also, dass die einen sich vom Licht, das ihnen wesensfremd ist, angezogen fühlen, die andern aber sich von ihm abwenden und sich in dem Element wohler fühlen, dem sie entstammen? Sind etwa die Fliegen aus den stinkenden Kloaken von reinerer Abkunft als die Motten aus den dunklen Schlafgemachen?
