28.
So findet sich alles oder fast alles, was Christus uns mit jenem Zusatz: Ich aber sage euch…, geraten oder geboten hat, auch in jenen alttestamentlichen Büchern. Dort wird gegen den Jähzorn gesagt (Ps. 6,8): Verwirrt ist mein Auge vor Zorn, oder (prov. 16,32): Besser ist, wer seinen Zorn besiegt, als wer eine Stadt erobert. Gegen harte Worte findet sich dort der Satz (eccl. 28,17): Geisselhiebe schlagen Striemen, Zungenhiebe zerschlagen Knochen; gegen den Ehebruch im Herzen (exod. 20,17): Du sollst nicht die Frau des Nächsten begehren; es heisst also nicht: Du sollst keinen Ehebruch begehen, sondern: Du sollst nicht begehren. Diese Stelle aus dem Gesetz hatte der Apostel vor Augen, als er sagte (Rm. 7,7): Denn von der Begierde hätte ich ja nichts gewusst, wenn nicht das Gesetz gesagt hätte: ‛Du sollst nicht begehren!’ Was den duldsamen Verzicht auf Widerstand betrifft findet man dort lobende Worte für den Mann, der seine Wange darbietet, wenn man ihn schlägt, und der sich sättigt an der Schmach (cf. Thren. 3,30). Es heisst dort über die Feindesliebe (prov. 25,21): Wenn dein Feind hungert, gib ihm zu essen; wenn er dürstet, gib ihm zu trinken! dies ist ja die Quelle, aus der der Apostel diesen Satz zitierte (Rm. 12,20) – und im Psalm (cf. Ps. 120,7) findet sich noch jener Satz: Mit denen, die den Frieden hassten, war ich friedfertig, und so gäbe es noch vieles. Dass wir aber Gott nachahmen sollten, indem wir Zurückhaltung üben im Vergelten und auch die Bösen lieben, dafür findest du dort eine ausführliche Stelle, die beschreibt, wie Gott selber dies handhabt. Es heisst dort nämlich (sap. 11,21-22,2): Denn deine Macht zu entfalten war dir allein immer möglich, und wer wird der Macht deines Arms widerstehen können? Denn wie das Körnchen auf der Waage ist vor dir die ganze Welt und wie der Tautropfen, der vor dem Morgengrauen zur Erde niederfällt. Doch du hast mit allem Erbarmen, weil du alles vermagst, und du siehst über die Sünden der Menschen hinweg, damit sie Busse tun. Denn du liebst alles, was ist, und hassest nichts von dem, was du geschaffen hast; denn hättest du etwas gehasst, hättest du es nicht geschaffen. Wie also könnte etwas Bestand haben, wenn du es nicht gewollt hättest, und wie könnte etwas erhalten bleiben, wenn es nicht von dir ins Dasein gerufen worden wäre? Du schonst jedes Wesen, weil es dein Eigentum ist, Herr, der du die Seelen liebst. Denn in allem ist dein guter Geist, und deshalb bestrafst du die, welche sich versündigen, nur nach und nach, und du redest ihnen zu und ermahnst sie wegen ihrer Sünden, damit sie sich von der Schlechtigkeit abwenden und an dich glauben, Herr. Um diese nachsichtige Geduld Gottes, der seine Sonne aufgehen lässt über Gute und Böse, und der über Gerechte und Ungerechte regnen lässt (Mt. 5,45), nachzuahmen ermahnt uns Christus, Unrecht, das uns angetan wurde, nicht zu vergelten, und denen Gutes zu tun, die uns hassen, damit wir vollkommen seien, wie unser himmlischer Vater vollkommen ist (cf. Mt. 5,48). Dass es aber auch uns selber hilft, Nachlass für unsere Sündenschuld zu erlangen (526. 15), wenn wir andern gegenüber auf die uns zustehende Vergeltung verzichten, und dass wir anderseits, wenn wir das nicht tun, darauf gefasst sein müssen, dass uns trotz flehentlichen Bittens der Nachlass für unsere Sündenverstrickung verweigert wird, darüber steht in jenen Büchern des Alten Testaments folgendes (eccl. 28,1-5): Wer auf Rache aus ist, wird Rache finden bei Gott, und er wird seine Sünden immer im Gedächtnis behalten. Vergib deinem Nächsten, wenn er dir Unrecht antut, und dann werden dir, wenn du betest, deine Sünden vergeben. Der Mensch verharrt im Zorn gegen den Menschen, und vom Herrn sucht er Heilung seines Fleisches? Mit seinesgleichen hat er kein Erbarmen und wegen seiner eigenen Sünden fleht er den Herrn an? Und obwohl er ein Wesen aus Fleisch ist, verharrt er im Groll und verlangt vom Herrn noch Gnade? Wer wird für seine Sünden Fürbitte einlegen?
