7.
Augustinus antwortete: Da du mit mir schon einig gehst, dass Christus gesagt hat (Mt. 5,17): Ich bin nicht gekommen, das Gesetz oder die Propheten aufzuheben, sondern sie zu vollenden – denn du erkennst, dass es schwierig ist, gegen die Autorität des Evangeliums aufzukommen –, solltest du nun auch erkennen, dass es schwierig ist, gegen den Apostel aufzukommen, wenn er sagt (I Kor. 10,6): All das waren Modellbilder für uns, ebenso wenn er über Christus sagt (II Kor. 1,19 f.): Denn er war ja nicht das Ja und das Nein zugleich, sondern das Ja ist in ihm geschehen: Denn was es gibt an Verheissungen Gottes, in ihm ist das Ja, d.h. in ihm sind sie erfüllt, in ihm sind sie vollendet worden, und du wirst in voller Klarheit sehen, welches Gesetz er mit seinem Kommen vollenden wollte, und wie er es zur Vollendung gebracht hat. Und du wirst dich nicht weiter über die drei Kategorien des Gesetzes und die drei Kategorien von Propheten verbreiten (497,17 ff.), auf der Suche nach einem Notausgang, den du nie finden kannst. Denn es ist doch offensichtlich, und dies wird auch durch die Texte des Neuen Testamentes immer wieder in aller Klarheit bezeugt, welches Gesetz und welche Propheten Christus mit seinem Kommen nicht aufheben, sondern vollenden wollte. Eben das Gesetz nämlich, das durch Moses überreicht wurde, ist durch Jesus Christus zur Gnade und zur Wahrheit geworden (cf. Joh. 1,17); eben dieses Gesetz, ich sage es nochmals, ist von Moses überreicht worden, über den Christus sagte (Joh. 5,46): Über mich nämlich hat jener geschrieben. Denn ohne Zweifel ist dies das Gesetz, das nachträglich in Kraft trat, um das Vergehen grösser zu machen (Rm. 5,20), ein Wort, das ihr, ohne es überhaupt zu verstehen, gern im Munde führt, um das Gesetz schlecht zu machen. Lies also beim Apostel nach und erkenne, dass es eben dieses Gesetz ist, über welches gesagt wird (Rm. 7,12 f.): Daher ist das Gesetz heilig, und das Gebot ist heilig, gerecht und gut. Wurde mir also etwas, das gut ist, Anlass zum Tod? Keineswegs. Vielmehr war es die Sünde, die mir, um als Sünde offenbar zu werden, mithilfe des Guten den Tod gebracht hat. Dass das Gesetz nachträglich in Kraft trat, um das Vergehen grösser zu machen (cf. Rm. 5,20), besagt nämlich nicht, dass dieses Gesetz das Vergehen befohlen hätte; vielmehr hatte die Einführung des heiligen, gerechten und guten Gebotes (cf. Rm. 7,12) bewirkt, dass sich die Stolzen, die vieles ihrem eigenen Verdienst zuschreiben, auch noch der Gesetzesübertretung schuldig machten, sodass sie, auf solche Weise erniedrigt, lernen konnten, dass es die Wirkung der Gnade ist – die durch den Glauben zuteil wird –, wenn sie nicht mehr im Zustand der Schuld dem Gesetz unterworfen, sondern im Zustand der Gerechtigkeit mit dem Gesetz verbunden sind. Der gleiche Apostel sagt ja, (Gal. 3,23 ff.): Bevor der Glaube kam, wurden wir unter dem Gesetz in Verwahrung gehalten, eingeschlossen im Hinblick auf den Glauben, der später enthüllt werden sollte. So war das Gesetz, wie es weiter heisst, unser Zuchtmeister auf Christus Jesus hin; nachdem aber der Glaube gekommen ist, sind wir nicht mehr unter dem Zuchtmeister; denn der Zustand der Schuld, der eine Folge des Gesetzes ist, verpflichtet uns nicht mehr, seitdem wir durch die Gnade frei geworden sind. Als wir nämlich in unserer Erniedrigung (504,12) die Gnade des Geistes noch nicht empfangen hatten, brachte uns der Buchstabe nichts als den Tod, indem er uns vorschrieb, was wir gar nicht erfüllen konnten. Daher sagt derselbe Apostel (II Kor. 3,6): Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig. Und auch dies sind Worte des gleichen Apostels (Gal. 3,21 f.): Wäre nämlich ein Gesetz gegeben worden, das die Kraft hat, lebendig zu machen, dann käme in der Tat die Gerechtigkeit aus dem Gesetz; statt dessen hat die Schrift alles unter der Sünde eingeschlossen, damit durch den Glauben an Jesus Christus die Verheissung denen zuteil werde, die glauben. Und ein weiteres Wort von ihm (Rm. 8,3 f.): Weil dies nämlich dem Gesetz unmöglich war, da es ohnmächtig war durch das Fleisch, sandte Gott seinen Sohn in Gestalt des Fleisches, das der Sünde unterworfen ist, um von der Sünde aus die Sünde im Fleisch zu verurteilen, damit die Gerechtigkeit des Gesetzes in uns zur Vollendung gelange, die wir nicht nach dem Fleisch, sondern nach dem Geist wandeln. Das also bedeutet das Wort (Mt. 5,17): Ich bin nicht gekommen, das Gesetz aufzuheben, sondern es zu vollenden. Denn es ist das Gesetz, welches sich die Stolzen unterwirft mit dem Schuldspruch der Gesetzesübertretung, indem es ihnen befiehlt, was sie nicht erfüllen können, und so ihre Sünde grösser macht, und es ist die Gerechtigkeit desselben Gesetzes, welche durch die Gnade des Geistes in denen vollendet wird, die von Christus, der nicht gekommen ist, das Gesetz aufzuheben, sondern es zu vollenden (Mt. 5,17), lernen, sanft und demütig im Herzen zu sein. Weil es nun aber selbst für jene, die unter der Gnade stehen, in diesem vergänglichen Leben schwierig ist, wenn etwa im Gesetz geschrieben ist (cf. Exod. 20,17): Du sollst nicht begehren, dem voll und ganz nachzukommen, deshalb hat Christus als Priester seinen eigenen Leib zum Opfer dargebracht, um für uns den Erlass der Sünden zu erreichen, und auch damit hat er das Gesetz zur Vollendung gebracht, indem das, was wir selber in unserer Schwäche nicht vermögen, durch die Vollkommenheit dessen, der das Haupt jenes Leibes ist, dessen Glieder wir sind (cf. Eph. 4,15; 5,23), wieder hergestellt wird. Deshalb sagt Johannes (I Joh. 2,1 f.): Meine Kinder, ich schreibe euch dies, damit ihr nicht sündigt; wenn aber einer gesündigt hat, dann haben wir als Beistand beim Vater Jesus Christus, den Gerechten. Er ist die Sühne für unsere Sünden.
