Zweiter Artikel. Der Mensch im Zustande der Urgerechtigkeit konnte fündigen.
a) Dagegen schreibt: I. Gregor der Große (4. moral. c. 28.): „Wenn den ersten Vater keine Fäulnis der Sünde verdorben hätte, so würde er ohne Zweifel keine Kinder der Hölle aus sich gezeugt haben; und jene, welche jetzt durch denErlöser gerettet werden sollen, würden geboren werden darum allein weil Gott sie auserwählt hat.“ Es würden also Alle, die geboren werden, bei der Geburt sogleich gefestigt sein in der Gerechtigkeit. II. Anselmus schreibt ähnlich (2. cur Deus homo c. 18.): „Wenn die Voreltern so gelabt hätten, daß sie in der Versuchung nicht gefallen wären, so wären sie gefestigt worden mit all ihrer Nachkommenschaft, daß sie weiter nicht hätten sündigen können.“ Die Kinder also wären von der Geburt an gefestigt gewesen in der Gerechtigkeit. III. Das Gute ist mächtiger wie das Böse. Aus der Sünde des ersten Menschen aber folgte die Notwendigkeit zur Sünde in denen, die aus ihm geboren werden. Also wäre aus der Beharrlichkeit des ersten Menschen die Notwendigkeit gefolgt, daß alle Menschen gerecht blieben. IV. Der Engel der Gott anhing, während andere Engel sündigten, ward allsobald in der Gerechtigkeit gefestigt, daß er nicht sündigen konnte. So auch würde der Mensch, wenn er in der Versuchung bestanden hätte, sogleich in der Gerechtigkeit gefestigt worden sein und hätte, wie beschaffen er selber war, auch ähnlich andere Menschen gezeugt. Alle Menschen wären sonach von Geburt an in der Gerechtigkeit gefestigt gewesen. Auf der anderen Seite sagt Augustin (14. de Civ. Dei cap. 10.): „Dann würde glücklich sein die gesammte menschliche Gesellschaft, wenn weder die Voreltern in ihre Nachkommen das Böse hineinleiteten; noch irgend welcher aus den letzteren solches Unrecht thäte, was die ewige Verdammnis verdiente.“ Also konnte, auch wenn die Voreltern festgestanden hätten“ in der Stunde der Versuchung, immerhin der eine oder der andere aus ihrem Geschlechte unrecht thun und so die ewige Verdammnis verdienen. Es würden somit die Kinder im Urzustande nicht geboren worden sein gefestigt in der Gerechtigkeit.
b) Ich antworte, es erscheine ganz unmöglich, daß die Kinder schon in der Geburt gefestigt gewesen seien in der Gerechtigkeit. Die Kinder nämlich hätten offenbar nicht mehr Vollkommenheit besessen bei ihrer Geburt wie die Eltern bei der Zeugung. Die Eltern aber wären in der Gerechtigkeit nicht gefestigt gewesen, so lange sie gezeugt hätten. Denn die vernünftige Kreatur ist dadurch in der Gerechtigkeit gefestigt, daß sie selig wird durch das Schauen Gottes, von dem sie sich zu keinem anderen Gute mehr abwenden kann; da Er die Fülle und das allumfassende Wesen des Guten ist und da nichts geliebt oder erstrebt wird außer weil es den Charakter des Guten trägt. Und das sage ich gemäß dem gemeinhin geltenden Gesetze; weil infolge eines besonderen Gnadenvorrechts eine Seele in der Gerechtigkeit von Anfang an befestigt worden sein kann, ohne daß sie zugleich das göttliche Wesen schaut; wie das geglaubt wird von der seligsten Jungfrau, der Mutter Gottes. Sobald aber Adam zu jener Seligkeit gelangt wäre, daß er Gottes Wesen schaue und in Geist und Körper geistig werde, so hätte auch zugleich das sinnliche Leben als sinnliches, von äußeren Einflüssen abhängiges aufgehört, in welchem allein ein Gebrauch der zeugenden Kraft stattfindet.
c) I. Wenn Adam nicht gesündigt hätte, so würde er nicht Kinder der Hölle aus sich gezeugt haben, die nämlich von ihm die Sünde hätten, die Ursache davon, daß sie die Hölle verdienen; trotzdem hätten sie kraft ihres freien Willens und obgleich mit der Urgerechtigkeit bekleidet Kinder der Hölle werden können. Oder, wenn sie Kinder der Hölle nicht würden durch die Sünde, dies wäre nicht, weil sie in der Gerechtigkeit vom Beginne ihres Seins an gefestigt sind; sondern weil Gottes Vorsehung sie beschützt, daß sie nicht sündigen. II. Anselmus spricht nur eine Vermutung aus; denn er sagt: „Es scheint, daß, wenn sie gelebt hätten.“ III. Dieser Grund scheint den Anselmus zu seiner Vermutung geführt zu haben. Derselbe ist jedoch nicht zwingend. Denn nicht so empfangen die Nachkommen von den Voreltern die Notwendigkeit, Sünder zu sein, daß sie zur Gerechtigkeit nicht zurückkehren könnten, also in der Sünde gefestigt werden. Das hat nur bei den Verdammten statt. Also wäre ihnen auch die Gerechtigkeit nicht in der Weise von den Voreltern mitgeteilt worden, daß sie nicht hätten sündigen können; eine solche Festigung hat nur statt bei den Seligen. IV. Engel und Mensch sind in diesem Punkte nicht in gleicher Lage. Denn der Mensch kann vom Guten zum Bösen und vom Bösen zum Guten sich wenden. Der Engel aber, hat er einmal gesündigt, ist fest in der Sünde; und hat er einmal das Gute gewollt, so ist er darin fest. (Vgl.Kap. 64, Art. 2.)
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