31.
Gewiß war es auch von dir wie von mir nicht trügerische List, sondern mitleidsvolle Teilnahme, daß du dachtest, du dürfest mich nicht in jenem Fehler lassen, in den ich nach deiner Ansicht gefallen war; auch du würdest dich ja nach einer rettenden Hand umsehen, wenn du auf gleiche Weise gefallen wärest. Ich sage also deiner wohlwollenden Gesinnung gegen mich Dank, verlange aber zugleich, auch du mögest mir nicht zürnen, wenn ich dir mein Mißfallen mitteile, da mir in deinen Schriften einige Stellen Mißfallen erregt haben. Sollen es doch alle gegen mich so halten, wie ich es gegen dich gehalten habe: wenn ihnen an meinen Schriften etwas offenbar mißfällt, so sollen sie es nicht unaufrichtigen Herzens loben, bei anderen nicht tadeln, was sie bei mir verschweigen. Hierdurch wird gewiß die Freundschaft mehr verletzt, das Recht der Vertraulichkeit beeinträchtigt. Denn ich weiß nicht, ob jene Freundschaften für christlich zu halten sind, in denen das weltliche Sprichwort: „Die Dienstfertigkeit macht Freunde, die Wahrheit bringt Haß“1 mehr Geltung hat als das Wort S. 318 der Schrift: „Besser sind Wunden vom Freunde als des Feindes zuvorkommende Küsse“2.
