22.
Aber das ist, wie gesagt, eine andere und große Frage. Möge, wer jener Ansicht ist, sich einen beliebigen S. 310 Grund zur Lüge suchen. Was aber die Verfasser heiliger Schriften und vor allem der kanonischen Bücher anbetrifft, so möge man die Ansicht unerschütterlich glauben und verteidigen, daß jede Lüge ihnen fern ist. Es könnte sonst den Anschein gewinnen, als ob die Ausspender Christi — von ihnen gilt das Wort: „Hier wird schon die Forderung gestellt, daß unter den Ausspendern jeder treu erfunden werde“1 — sich etwas darauf zugute tun würden, daß sie treulich gelernt hätten, zum Zwecke der Mitteilung der Wahrheit zu lügen, während doch der Glaube selbst in der lateinischen Sprache seinen Namen daher hat, weil geschieht2, was gesagt wird. Wo aber geschieht, was gesagt wird, da ist für die Lüge kein Raum. Als treuer Ausspender bietet uns also der Apostel Paulus in seinen Schriften die zweifellose Wahrheit; denn er war Ausspender der Wahrheit, nicht der Lüge. Und demgemäß hat er die Wahrheit geschrieben, wenn er berichtet: er habe gesehen, daß Petrus nicht gerade nach der Wahrheit des Evangeliums wandle, und ihm deshalb ins Angesicht Widerstand geleistet, weil er die Heiden zu jüdischer Sitte gezwungen habe. Petrus seinerseits nahm, was Paulus in nutzbringender Weise und mit dem Rechte der Liebe tat, mit der Gesinnung heiliger und liebreicher Demut an. Und so war sein Beispiel, im Falle der Abweichung vom rechten Pfade auch eine Zurechtweisung von Seiten der Untergebenen nicht zu verschmähen, für die späteren Geschlechter heiliger und seltener als das des Paulus, das sie lehrte, daß auch Untergebene zur Verteidigung der Wahrheit des Evangeliums mit freimütiger Zuversicht den Vorgesetzten3 Widerstand leisten dürfen, wenn nur die brüderliche Liebe gewahrt bleibt. Denn wenn es auch besser ist, gar nicht als nur in einem Punkte vom rechten Wege abzuweichen, so verdient es doch viel mehr Lob und S. 311 Bewunderung, eine Zurechtweisung gern hinzunehmen, als freimütig den Irrenden zurechtzuweisen. Paulus verdient also das Lob gerechter Freimütigkeit, Petrus aber das Lob heiliger Demut. Nach meiner bescheidenen Meinung müßte man diesen Tatbestand vor allem gegen den Verleumder Porphyrius4 verteidigen, anstatt ihm weitere Veranlassung zu geben, die Christen noch giftiger anzugreifen, als ob sie entweder ihre Briefe in lügenhafter Weise schrieben oder die Geheimnisse ihres Gottes in solcher Art behandelten.
1 Kor. 4, 2. ↩
Cum ipsa fides in latino sermone ab eo dicatur appellata, quia fit, quod dicitur. ↩
Etiam minores maioribus pro defendenda evangelica veritate salva fraterna caritate resistere. In diesen Worten erkennt der hl. Augustinus aufs unzweideutigste den Vorrang des Petrus vor Paulus an. ↩
Porphyrius, der bedeutendste unter den Schülern des Plotin und unter den literarischen Bekämpfern des Christentums, geboren um 232 zu Batanae (oder Tyrus?) in Syrien, gestorben um 304 zu Rom. ↩
