20.
Es scheint mir eine große Frage zu sein, was es denn heißt, in dem vom Apostel getadelten Sinne sich unter dem Gesetze zu befinden. Ich glaube nicht, daß er dies sagt in bezug auf die Beschneidung oder auf jene Opfer, die früher von den Altvätern dargebracht wurden, jetzt aber von Christen nicht mehr dargebracht werden, oder auf etwas Ähnliches; er meint vielmehr die Vorschrift des Gesetzes: „Du sollst nicht begehren“1, die vorzüglich durch die Verkündigung des Evangeliums ihr volles Licht erhält und zu deren Beobachtung, wie wir gewiß zugestehen, alle Christen verpflichtet sind. „Das Gesetz“, sagt er, „ist heilig, ein heiliges, gerechtes und gutes Gebot“2. Dann fügt er hinzu: „Was also gut ist, ist mir zum Tode geworden? Das sei ferne! Sondern damit sich die Sünde als Sünde zeige, wirkte sie mir durch das Gute den Tod, auf daß der Sünder oder die S. 308 Sünde das Maß überschreite durch das Gebot“3. Derselbe Gedanke, daß nämlich die Sünde durch das Gebot das Maß überschreite, findet sich auch an einer anderen Stelle: „Das Gesetz trat hinzu, auf daß die Sünde überfließe. Da aber die Sünde überfloß, überfloß noch mehr die Gnade“4. Und an einer anderen Stelle, nachdem er zuerst gesagt hatte, daß die Ausspendung der Gnade die Rechtfertigung erteile, wirft er die Frage auf: „Wozu also das Gesetz?“5 und beantwortet sie sogleich: „Um der Übertretung willen ist es gegeben worden, bis der Same käme, der die Verheißung hat“6. Jene also, meint er, befinden sich in verdammlicher Weise unter dem Gesetze, die das Gesetz zu Sündern macht; denn sie erfüllen es nicht, da sie die Notwendigkeit der Gnadenhilfe zur Vollbringung der Gebote Gottes nicht begreifen und so in stolzer Selbstüberhebung auf ihre eigenen Kräfte vertrauen. „Denn die Fülle des Gesetzes ist die Liebe“7; „die Liebe Gottes aber ist in unsere Herzen ausgegossen“, nicht durch uns selbst, sondern „durch den Heiligen Geist, der uns verliehen ist“8. Um indessen diesen Gegenstand hinreichend zu behandeln, wäre vielleicht eine ausführlichere Erörterung in einem eigenen Buche notwendig. Wenn also die Vorschrift des Gesetzes: „Du sollst nicht begehren“ — wofern nicht die Gnade Gottes der menschlichen Schwachheit zu Hilfe kommt — nur den Sünder anklagt und eher den Übertreter verdammt, als den Sünder befreit, wieviel weniger konnten jene Dinge, die nur um des Vorbildes willen geboten waren wie die Beschneidung und was sonst abgeschafft werden mußte, sobald die Gnadenoffenbarung in weiteren Kreisen bekannt wurde, irgend S. 309 jemanden rechtfertigen! Deshalb aber brauchte man sie nicht gleich wie die teuflischen Frevel der Heiden zu fliehen, auch dann nicht, als schon die Offenbarung der Gnade begonnen hatte, die durch diese Schattenbilder vorherverkündet war; sondern man mußte sie für kurze Zeit gestatten, besonders jenen, die aus dem Volke gekommen waren, dem sie verliehen worden waren. Später aber, nachdem sie gleichsam mit Ehren begraben worden waren, mußten sie unwiderruflich von allen Christen aufgegeben werden.
Röm. 7, 7; 13, 9; Exod. 20, 17; Deut. 5, 21. ↩
Röm. 7, 12. ↩
Röm. 7, 13. Indessen ist die Lesart des hl. Augustinus selbst dem Sinne nach verschieden von der Lesart der Vulgata: „Ut fiat supra modum peccans peecatum per mandatum“, das heißt „auf daß die Sünde über die Maßen sündhaft werde durch das Gebot“. Die Lesart des hl. Augustinus: „Ut fiat supra modum peccator aut peccatum per mandatum“ ist durch Mißverständnis oder Interpolation des griechischen Textes entstanden. ↩
Röm. 5, 20. ↩
Gal. 3, 19. ↩
Ebd. ↩
Röm. 13, 10. ↩
Ebd. 5, 5. ↩
