19.
Allein derselbe Apostel hat ja gesagt: „Sehet, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasset, so wird Christus euch nichts nützen“1. Also hat er den Timotheus hintergangen und bewirkt, daß Christus ihm nichts nützt? Oder hat es ihm deshalb nicht geschadet, weil es nur in Täuschung geschah? Allein Paulus selbst setzt diesen Fall gar nicht; er sagt nicht etwa: „Wenn ihr euch aufrichtig beschneiden lasset“, auch sagt er nicht: „Wenn ihr es zum Zwecke der Täuschung tut“, sondern er sagte ohne jede Einschränkung: „Wenn ihr euch beschneiden lasset, so wird euch Christus nichts nützen.“ Willst du also an dieser Stelle deine Ansicht geltend machen und ergänzen: „Außer es geschehe zum Zwecke der Täuschung“, so ist es kein unbescheidenes Verlangen von mir, daß du auch meine Erklärung des Wortes: „Wenn ihr euch beschneiden lasset“ gelten läßt; diese aber geht dahin, daß diese Worte sich auf jene beziehen, die nur deshalb beschnitten werden wollten, weil sie glaubten, sie könnten ohne dies nicht in Christus selig werden. Wer in dieser Gesinnung, in dieser Meinung, in dieser Absicht sich beschneiden ließ, der allerdings hatte von Christus durchaus keinen S. 307 Nutzen. In demselben Sinne sagt er anderswo: „Wenn durch das Gesetz die Gerechtigkeit kommt, so ist Christus vergeblich gestorben“2. Damit ist auch die von dir angeführte Stelle erklärt: „Losgetrennt seid ihr von Christus, die ihr im Gesetze gerechtfertigt werdet, ihr seid abgefallen von der Gnade“3. Jene tadelt er also, die glaubten, daß sie durch das Gesetz gerechtfertigt werden, nicht jene, die die gesetzlichen Gebräuche zur Ehre dessen, der sie angeordnet hatte, beobachteten und dabei ihren vorbildlichen Charakter und ihre Beschränkung auf eine gewisse Zeit wohl im Auge behielten. Hier findet sich auch die Stelle, an der er sagt: „Wenn ihr vom Geiste geleitet werdet, so seid ihr nicht mehr unter dem Gesetze“4. Daraus ziehst du nun den Schluß, daß, wer unter dem Gesetze sich befindet, nicht heuchlerisch5, wie nach deiner Meinung unsere Vorfahren geglaubt haben, sondern in Wahrheit, wie ich die Sache verstehe, den Heiligen Geist nicht besitze.
