38.
Nimm Dir nicht jene zum Vorbilde, welche in den Sorgen für das Fleisch 1 aufgehen und die Zinsen ihres Vermögens sowie die täglichen Ausgaben für den Haushalt zusammenrechnen. Der Verrat des Apostels Judas hat nicht den Fall der anderen elf nach sich gezogen. Mögen Phygelus und Alexander Schiffbruch gelitten haben, so sind die anderen doch nicht von der Bahn des Glaubens abgewichen. 2 Sprich auch nicht: „Diese oder jene weiß ihren Besitz zu genießen. Die Menschen ehren sie; Brüder und Schwestern kommen bei ihr zusammen. Hat sie damit etwa aufgehört, eine Jungfrau zu sein?“ Zuerst ist es fraglich, ob eine solche auch eine Jungfrau ist. Denn Gott sieht nicht, wie der Mensch sieht. Der Mensch schaut auf das Gesicht, aber Gott blickt ins Herz. 3 Deshalb kann ich nicht wissen, ob sie dem Geiste nach eine Jungfrau ist, mag sie es auch dem Leibe nach sein. Der Apostel aber erklärt den Begriff Jungfrau so, daß sie sowohl dem Leibe als dem Geiste nach heilig sein muß. 4 Schließlich mag sie sich ihren Ruhm suchen, wo sie will. Laß sie sich hinwegsetzen über des Paulus Urteil, laß sie ihren Freuden und Genüssen leben! Wir wollen bessere Beispiele nachahmen! Da ist zuerst die seligste Jungfrau Maria, welche von solcher Reinheit war, daß sie gewürdigt wurde, Mutter des Herrn zu werden. Als zu ihr der Engel Gabriel in Gestalt eines Mannes herabstieg und sprach: „Sei gegrüßet, voll der Gnade, der Herr ist mir dir“, konnte sie vor lauter Bestürzung und Schrecken nicht antworten. 5 Noch nie war sie von einem Manne begrüßt worden. Als sie endlich wußte, wessen Bote vor ihr stand, da fand sie ihre Worte wieder. Vor dem Manne erschrak sie, aber mit S. 112 dem Engel redete sie ganz unbefangen. Auch Du kannst eine Mutter des Herrn sein. Nimm Dir ein großes und neues Buch und schreibe mit dem Stift eines Menschen, der eilig seine Beute ergreift, 6 hinein. Hast Du Dich dann der Prophetin genaht, in Deinem Schoße empfangen und einen Sohn geboren, 7 dann sprich: „Aus Furcht vor dir, o Herr, haben wir empfangen. Wehen ausgestanden und geboren. Den Geist des Heiles haben wir über die Erde ausgebreitet.“ 8 Dann wird auch Dein Sohn Dir antworten und sagen: „Siehe, das sind meine Mutter und meine Brüder.“ 9 Und, o Wunder, er, den Du vorher über die Breite Deiner Brust niedergeschrieben 10 hattest, den Du in neuem Herzen mit eiligem Stifte eingetragen hattest, er wird aus den Feinden die Beute herausholen, die Fürstentümer und Mächte besiegen und ans Kreuz schlagen; 11 er wird von Dir empfangen werden und immer mehr heranwachsen, und groß geworden, wirst Du ihm nicht mehr Mutter, sondern Braut sein. 12 Es kostet große Anstrengung, bringt aber auch reichen Lohn, das zu sein, was die Märtyrer, die Apostel sind, was Christus ist. Aber dies alles bringt nur Nutzen, wenn es in der Kirche geschieht, wenn wir in dem einen Hause das Pascha feiern, wenn wir mit Noe in die Arche eingehen, 13 wenn beim Untergang Jerichos die bekehrte Rahab uns einschließt. 14 Aber die Jungfrauen, die es bei verschiedenen Irrlehrern, vor allem bei der unreinen Sekte der Manichäer, geben soll, sind als Dirnen, aber nicht als Jungfrauen zu betrachten. Denn wenn der S. 113 Teufel ihren Leib geschaffen hat, 15 wie können sie das Werk ihres Feindes in Ehren halten? Aber weil sie wissen, daß der Name Jungfrau ein Ehrentitel ist, verbergen sich diese Wölfe unter Schaffellen. 16 Der Antichrist gibt sich fälschlich für Christus aus. Ihr schändliches Leben tarnen sie mit einem unberechtigt zugelegten, ehrenvollen Namen. Freue Dich, meine Schwester, freue Dich, meine Tochter, freue Dich, meine Jungfrau! Du hast angefangen wirklich zu sein, was andere zu sein heucheln.
Röm. 13, 14. ↩
1 Tim. 1, 20; 2 Tim. 1, 15. ↩
1 Kön. 16, 7. ↩
1 Kor. 7, 34. ↩
Luk. 1, 28 f. ↩
Is. 8, 1. ↩
Ebd. 8, 3. ↩
Is. 26, 18 (nach LXX). Bei den LXX steht allerdings statt „a timore tuo“ „???“. ↩
Matth. 12, 49. ↩
3 Kön. 4, 29. ↩
Kol. 2, 15. 14. ↩
Die Stelle ist wegen der allegorischen Deutung der Schriftstellen nicht ohne weiteres zu erfassen. Hieronymus will sagen, daß jede Jungfrau, indem sie sich durch Erneuerung ihres Herzens dem Hl. Geiste naht, in geistiger Weise Mutter Christi werden kann, der sie dann, wenn er in ihr zum Vollalter der Gnade herangereift ist, zu seiner Braut macht. ↩
Gen. 6 ff. ↩
Jos. 6, 17. 25. ↩
Der Teufel ist hier das böse Prinzip, auf welches die Manichäer die Erschaffung der Materie zurückführen. ↩
Matth. 7, 15. ↩
