Dritter Artikel Die Vernunft in ihrem Verhältnisse zum Falschen.
a) Das Falsche ist nicht in der Vernunft. Denn: I. Augustin (83. Quaes. 32) sagt: „Jeder, der sich täuscht, hat kein Verständnis in dem, worin er sich täuscht.“ Das Falsche muß aber doch in einem Verständnisse sein, gemäß dem wir uns täuschen. Also ist im Verständnisse und somit in der Vernunft nichts Falsches. II.Aristoteles (III de anima) schreibt: „Die Vernunft ist immer gerade.“ Also ist sie nicht falsch. Auf der anderen Seite schreibt letzterer (III de anima): „Wo ein Zusammensetzen und ein Trennen der verschiedenen Verständnisse oder Auffassungen sich findet, da ist auch Wahres und Falsches.“ Also ist Falsches in der Vernunft.
b) Ich antworte, daß, wenn ein Ding thatsächliches Sein hat auf Grund seines Wesens oder seiner Form, so hat die Erkenntniskraft thatsächliches Erkennen kraft der Ähnlichkeit in ihr mit der erkannten Sache. So wie deshalb kein Ding im Bereiche der Natur von jenem Sein sich entfernt, das es vermittelst und gemäß seiner Form besitzt; wie es aber wohl sich entfernen kann von einzelnen mehr zufälligen Eigenschaften, die zum Wesen hinzutreten oder von manchem anderen, was im Gefolge ist; wie z. B. der Mensch es verlieren kann, daß er zwei Beine hat, nicht aber, daß er Mensch ist; — so hat die Erkenntniskraft im Erkennen keine Schwäche oder Ohnmacht rücksichtlich jenes Dinges, durch dessen Ähnlichkeit sie innerlich bestimmt oder bethätigt ist; wohl aber kann eine solche Schwäche eintreten rucksichtlich dessen, was im Gefolge ist oder was zu dieser Ähnlichkeit, ohne von Natur aus notwendig damit verbunden zu sein, hinzutritt. So wird auch der Sinn nicht getäuscht rücksichtlich des ihm allein eigentümlichen Gegenstandes, wie das Auge nicht den Schall irrtümlich auffaßt und das Ohr ebensowenig die Farbe. Rücksichtlich dessen jedoch, was diesen Gegenstand begleitet, wie Figur, Größe, Dicke, Dünne etc. oder was im Gefolge ist, kann ein Irrtum eintreten. Der Gegenstand aber, welcher der Vernunft allein und keiner anderen Fähigkeit eigentümlich ist, das ist das Wesen oder die Natur des Dinges, wonach vom Dinge ausgesagt wird: es ist dies oder jenes; es ist ein Mensch oder eine Pfianze. Rücksichtlich dieses Gegenstandes also ist in der Auffassung der Vernunft kein Irrtum möglich; sie kann weder als ihren eigentlichen Gegenstand die Farbe noch den Schall u. dgl. auffassen, sondern die innigste Natur des Dinges immer. Im Zusammensetzen aber und im Trennen, also im Urteilen, kann sie sich täuschen, indem sie dem Dinge, dessen Wesen sie erfaßt hat, etwas zuschreibt, was demselben nicht zugehört oder gar, was ihm entgegengesetzt ist. Denn hier steht die Vernunft im selben Verhältnisse zu ihrem Gegenstand, wie die Sinne zu den sensibilia communia, zu dem allen sinnlichen Auffassungen Gemeinschaftlichen oder zu Zufälligkeiten. Es besteht dabei immerhin der Unterschied, daß im Sinne das Falsche nicht als etwas Erkanntes ist. Die Vernunft aber hat nicht nur als Ergebnis des Zusammensetzens und Trennens etwas Falsches in sich; sondern sie erkennt dasselbe auch, obgleich nicht präcis oder sich bewußt, als etwas Falsches. An und für sich also kann in der Vernunft Falsches nur sein rücksichtlich der zusammensetzenden oder trennenden Thätigkeit. Es kann jedoch nebensächlich und insoweit diese Thätigkeit damit vermischt ist, auch im reinen Erfassen des Wesens, also des der Vernunft eigentümlichen Gegenstandes, Falsches sich hineinmischen; und zwar auf doppelte Weise: Einmal; insofern der Mensch die Begriffsbestimmung des einen Dinges von dem anderen aussagt; wie z. B. wenn er die Begriffsbestimmung des Kreises vom Menschen aussagte; so daß das Wesen der einen Sache, das er als wahres, entsprechendes in sich hat, einer anderen Sache zugeteilt wird, deren Wesen er für sich betrachtet auch entsprechend in sich hat. Dann; insofern er Teile einer Begriffsbestimmung oder eines Dinges mit Teilen eines anderen verbindet, so daß etwas zusammenkommt, was nicht zusammenpaßt; wie wenn über den Menschen die Begriffsbestimmung gebildet würde: ein „sinnbegabtes, vernünftiges, vierfüßiges Wesen“. Dieses Verständnis wäre falsch, weil es falsch gewesen ist zusammenzusetzen: „Ein sinnbegabtes vernünftiges Wesen ist Vierfüßler.“ Also kann im Erkennen der Wesenheiten etwas Falsches in der Vernunft sein, nicht zwar an und für sich, von vornherein; aber im Gefolge des Zusammensetzens und Trennens. Sonst ist die Vernunft in der einfachen Aufnahme solcher Wesen, wie Mensch, Tier etc., entweder stets wahr oder sie faßt dieselben gar nicht auf.
c) I. Das Wesen des Dinges ist der eigenste Gegenstand der Vernunft; und deßhalb wird von uns im eigentlichen Sinne gesagt, wir verständen etwas, wenn wir es auf das in uns respektive in unserer Vernunft bestehende Wesensbild zurückführen und so darüber urteilen. Und so geschieht es in Sätzen, wo nichts Falsches sich findet. Demgemäß ist das Wort Augustins zu verstehen: „Jeder, welcher sich täuscht, versteht nicht das, worin er sich täuscht“; d. h. seinem Verständnisse ist das innere in der Vernunft bestimmende Wesen nicht vermittelst des Urteils gegenwärtig. Nicht aber ist es dahin zu erklären, daß jemand in keiner Tätigkeit der Vernunft sich täuscht. II. „Die Vernunft ist immer gerade“ rücksichtlich der allgemeinen Principien und der einfachen Erfassung des Wesens. Denn die allgemeinen Principien sind aus sich selbst ohne weiteres erkannt, weil das Prädikat zum Wesen des Subjektes gehört. Diese allgemeinen Principien umfaßt Aristoteles gewöhnlich mit dem Namen: „Vernunft“, „Einsicht“, „Verständnis“, intellectus principiorum.
