Dritter Artikel. Die Begehr- und Abwehrkraft sind dem Verstande von Natur aus untergeordnet.
a) Das scheint nicht. Denn: I. Die Sinnlichkeit überhaupt gehorcht nicht der Vernunft, weshalb sie nach Augustin (12. de Trin. 12.) durch die Schlange bezeichnet wird. II. Der Apostel sagt (Röm. 7.): „Ich sehe ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das da widerstrebt dem Gebote der Vernunft.“ Was aber widerstrebt, ist nicht untergeordnet. III. Wir hören und sehen nicht, wann wir wollen. Die Sinne also sind nicht unterworfen der Vernunft; folglich auch nicht das sinnliche Begehren. Auf der anderen Seite sagt Damascenus (2. de orth. fide c. 12.): „Was dem Willen und der Überredung der Vernunft folgt, das wird geteilt in die Begehr- und Abwehrkraft.“
b) Ich antworte; beide sinnliche Kräfte sind 1. der Vernunft untergeordnet, und 2. dem Willen. 1. Der Vernunft sind die Begehr- und Abwehrkraft untergeordnet mit Rücksicht auf ihre Thätigkeit selber. Der Grund ist folgender: In den Tieren ist das Begehren von Natur aus geeignet, bestimmt zu werden von der inneren Schätzungskraft oder dem Instinkte; wie das Schaf, welches den Wolf als seinen Feind erachtet, von Natur vor ihm Furcht hat. Anstatt dieser Schätzungskraft oder des Instinktes aber hat der Mensch die Vernunft und zwar zunächst den oben sogenannten „besonderen, beschränkten Verstand“ (die ratio partioularis, kraft dessen die Seele das Besondere und Einzelne als solches abmißt und vergleicht. Also ist das Begehren der Sinne durch die Natur selber geeignet, von dem „besonderen Verstande“ bestimmt und in eine gewisse Richtung gebracht zu werden. Dieser „besondere Verstand“ aber steht unter der Leitung der allgemeinen stofflosen Vernunft, weshalb beim Schließen vom einen auf das andere aus den allgemeinen Principien als der leitenden Richtschnur sich die besonderen Folgerungen ergeben. Sonach ist es offenbar, daß der allgemeinen Vernunft die Begehr- und Abwehrkraft als Vermögen des sinnlichen Begehrens unterworfen sind. Und weil das Schließen vom Allgemeinen auf das Besondere nicht so sehr der einfach auffassenden allgemeinen Vernunft zukommt, sondern der „Verstandeskraft“, die von der Erkenntnis des einen zu der des anderen gelangt, so heißt es besser, sie seien dem „Verstande“ Unterthan, wie daß sie der allgemeinen Vernunft gehorchen. Das erfährt zudem jeder in sich selber. Denn je nachdem er allgemeine Betrachtungen anstellt oder auf allgemeine Principien zurückgeht, besänftigt er Zorn, Furcht, Begierde etc. oder er entflammt sie noch mehr. 2. Dem Willen aber untersteht das sinnliche Begehren, soweit es auf die Ausführung ankommt, die vermittelst der Bewegungskraft sich vollzieht. So flieht z. B. bei den Tieren das Schaf sogleich, wenn die Furcht vor dem Wolfe es befällt. Der Mensch aber folgt in seiner Bewegung nicht allsogleich der Begehr- und Abwehrkraft, sondern es wird da auf den Befehl des Willens gewartet als des höheren Begehrens. Denn in allen bewegenden Kräften bewegt die niedrigere nach Maßgabe der höheren. Und so kann das niedere sinnliche Begehren im Menschen nicht in Bewegung setzen außer insoweit es dem höheren untersteht: „Wie die höhere Sphäre am Himmel bewegt die niedere,“ sagt Aristoteles (8. de anima), „so bewegt das höhere Begehrungsvermögen das niedrige.“ So also ist die Begehr- und Abwehrkraft untergeordnet dem „Verstande“.
c) I. Die „Sinnlichkeit“ wird im Bilde der Schlange ausgedrückt gemäß dem, was ihr von seiten des sinnlichen Teiles allein naturgemäß eigen ist. Die Begehr- und Abwehrkraft dagegen bezeichnen vielmehr das sinnliche Begehren von seiten der Thätigkeit; und dazu leitet an die Vernunft. II. Aristoteles unterscheidet mit Rücksicht auf die vernünftige Seele eine sklavische Herrschaft und eine bürgerliche. (1. Polit. cap. 3.) Sie befiehlt dem Körper wie einem Sklaven. Die Vernunft aber leitet das Begehren wie ein König seine freien Unterthanen. Der Sklave nämlich kann nicht widerstehen; denn es gehört ihm nichts, weder rücksichtlich seiner selbst noch rücksichtlich seines Besitzes. Der freie Mann aber kann widerstehen; denn er hat etwas, was ihm eigen zugehört. So also können die Glieder des Körpers, wenn anders sie in guter organischer Verfassung sind, dem Befehle der Seele nicht widerstehen; gemäß dem Begehren der Seele ist der Fuß, die Hand gleich in Bewegung und so jedes Glied, was von Natur geeignet ist, dem Willen nach seine Bewegung einzurichten. Die Abwehr- und Begehrkraft aber haben etwas Besonderes in sich, kraft dessen sie widerstehen können. Denn das sinnliche Begehren ist von Natur aus nicht nur geeignet, der Schätzungskraft oder dem Instinkte im Tiere, dem „besonderen Verstande“ im Menschen, welchen die allgemeine Vernunft leitet, zu folgen; sondern sie hat auch etwas Eigenes, nämlich die Neigung, vom äußeren Sinne und von der Einbildungskraft aus eine Bestimmung und demgemäße Bewegung zu erhalten und nicht nur von der ratio particularis. Deshalb erfahren wir es an uns selbst, daß die Begehr- und Abwehrkraft deshalb der Vernunft widerstrebt, weil die äußeren Sinne etwas vorstellen oder wir uns etwas Ergötzliches einbilden, was die Vernunft verbietet, oder das als traurig, was die Vernunft vorschreibt. Wenn somit auch die Begehr- und Abwehrkraft in etwas der Vernunft sich entziehen und ihr widerstreben, so wird doch dadurch nicht ausgeschlossen, daß sie ihr untergeordnet sind. III. Die äußeren Sinne bedürfen für ihre Thätigkeit der äußeren sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände, von denen sie beeinflußt werden; und die Gegenwart derselben steht nicht in der Gewalt der Vernunft. Die inneren, sowohl die auffassenden wie die begehrenden, Kräfte aber bedürfen nicht unmittelbar der äußeren Gegenstände; und deshalb sind sie der Vernunft untergeordnet, die nicht nur die Affekte besänftigen und steigern kann, sondern auch eigens Phantasiebilder formen.
