Vierter Artikel. Im Zustande der Unschuld konnte der Mensch sich nicht irren.
a) Das Gegenteil erhärten folgende Gründe: I. 1. Tim. 2, 14. heißt es: „Das Weib ward verführt in jenem Sündenfalle.“ II. Petrus Lombardus (21. dist. 2. Sent.) sagt: „Das Weib schrak deshalb nicht zurück vor der sprechenden Schlange, weil es meinte, Gott habe derselben die Gabe verliehen, zu sprechen.“ Darin aber irrte das Weib. III. Je entfernter etwas ist, desto geringeren Umfang scheint es zu haben. Da nun die Natur des Auges dieselbe ist nach wie vor der Sünde, so wäre dies auch im Zustande der Unschuld der Fall gewesen. Also hätte sich der Mensch in der Berechnung des Umfanges einer Sache getäuscht; auch im Paradiese. IV. 12. 8up. Gen. ad litt. 2. sagt Augustin: „Im Schlafe haftet die Seele an der Ähnlichkeit eines Dinges, als ob sie das Ding selber wäre.“ Der Mensch aber hätte gegessen und folgerichtig geschlafen und geträumt, wenn er im Paradiese geblieben wäre, wie er es jetzt thut. Also hätte er sich getäuscht. V. Der erste Mensch wußte nicht die Herzensgedanken der anderen und die zukünftigen Dinge. Also konnte er darin sich täuschen. Auf der anderen Seite sagt Augustin (3. de lib. arb. 16.): „Für wahr halten, was falsch ist; das kommt nicht von der Natur des Menschen, wie Gott sie zuerst gegründet, sondern ist die Strafe der Sünde.“
b) Ich antworte, daß einige meinten, unter dem Namen der Täuschung sei ein Zweifaches zu verstehen: 1. eine irgend welche augenblickliche Meinung, kraft deren jemand dem Falschen zustimmt, als ob es wahr wäre, ohne daß diese Zustimmung Leichtgläubigkeit sei; und 2. ein festes, dauerndes leichtgläubiges Zustimmen. Adam nun, so sagten sie, konnte auf keine Weise vor der Sünde sich täuschen rücksichtlich dessen, von dem er Wissenschaft hatte. Rücksichtlich jener Dinge aber, von denen er zuverlässiges Wissen nicht hatte, konnte sich Adam täuschen; jedoch nur in der erstgenannten Weise und im weitesten Sinne ohne jede feste Zustimmung. Denn nach ihrer Meinung wäre es dem Menschen nicht schädlich, in solchen Dingen Falsches für wahr zu nehmen; und da keine leichtsinnige Zustimmung dazu gegeben wird, so sei dies auch nicht als Schuld anzurechnen. Diese Annahme aber widerspricht der vollständigen Unversehrtheit des Unschuldszustandes; weil, wie Augustin sagt (14. de civ. Dei 10.), „in jenem Zustande ein ruhiges Vermeiden der Sünde existierte, wobei, so lange dies so blieb, ein Übel nicht eintreten konnte.“ Da nun das Falsche ein Übel für die Vernunft ist, konnte der erste Mensch nicht dem Falschen anhangen als ob es Wahrheit wäre. Denn wie im Körper des ersten Menschen wohl manche Vollkommenheit mangelte, z. B. die lichtvolle Helle, jedoch kein Übel da sein konnte; so konnte wohl die Vernunft mancherlei nicht wissen, nicht aber Falsches für wahr erachten. Ganz das Gleiche ergiebt sich aus dem Charakter des Aufrechten, was dem ersten Zustande des Menschen eigen war; wonach nämlich so lange die niederen Kräfte im Menschen den höheren untergeben waren als die höheren Gott gehorchten; und die letzteren in nichts von den niederen gestört wurden. Offenbar aber ist die Vernunft in betreff ihres eigensten Gegenstandes (Kap. 85, Art. 6) immer wahr und täuscht sich also von sich selbst aus niemals. Vielmehr rührt aller Irrtum von den niederen Kräften her, z. B. von der Einbildungstraft u. dgl. Und so sehen wir, daß wir durch Erscheinungen wie die bei den Schlafenden so oft in die Irre geführt werden, als die Sinne, durch die das Urteil gemäß der Natur hindurchgehen muß, gebunden sind; sind sie nicht mehr gebunden, so irren wir darin nicht mehr. Also war mit dem Stande der Unschuld irgend welche Täuschung in der Vernunft unverträglich.
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