Dritter Artikel. Die Menschen wären im Stande der Unschuld nicht einander gleich gewesen.
a) Dagegen sagt: I. Gregor der Große (cura past. p. 2. cap. 6.): „Worin wir nicht gesündigt haben, sind wir alle einander gleich.“ Im Stande der Unschuld aber war keine Schuld. II. Ähnlichkeit und Gleichheit ist der Grund für gegenseitige Liebe; wie Ekkli. 13, 19. es heißt: „Jedes lebende Wesen liebt das ihm ähnliche; und der Mensch seinen Nächsten.“ In jenem Stande aber wäre Liebe im Überflusse vorhanden gewesen als Band der Liebe. Also wären da alle sich gleich gewesen. III. Wo der Grund nicht mehr da ist, hört die Wirkung auf zu sein. Die Ursache der Ungleichheit aber besteht nicht auf seiten Gottes, der nach Verdienst die einen belohnt, die anderen straft. Auf seiten der Natur besteht sie deshalb, weil einige Menschen mit Mängeln und schwach geboren werden, andere aber vollkommen und stark. Dies aber hätte nicht stattgefunden im Stande der Unschuld, wo alle vollkommen und stark zur Welt gekommen wären. Auf der anderen Seite heißt es Röm. 13, 1.: „Was von Gott kommt, das kommt von Ihm in geordneter Weise.“ Die Ordnung aber scheint zumeist in der Ungleichheit zu bestehen; wie Augustin sagt (19. de civ. Dei 13.): „Die Ordnung ist jenes Verhältnis, wodurch gleiche und ungleiche Dinge je den gebührenden Platz einnehmen.“
b) Ich antworte; es mußte zuvörderst im Urzustände der Menschen Ungleichheit sein rücksichtlich des Geschlechts, sonst wäre keine Zeugung möglich gewesen; dann mußte eine Verschiedenheit sein im Alter, da die einen von den anderen gezeugt wurden. Aber auch in der Seele war Ungleichheit; und zwar sowohl rücksichtlich der Gerechtigkeit wie rücksichtlich des Wissens. Denn da der Mensch nicht aus Notwendigkeit wirkte, sondern ganz nach freiem Willen; so konnte der eine seinen Geist mehr gebrauchen und dem zu Wirkenden zuwenden wie der andere. Der eine konnte in höherem Grade wollen und erkennen wie der andere. Und so war ein Mehr und Minder im Fortschritte in der Gerechtigkeit und Wissenschaft. Auch auf seiten des Körpers konnte Ungleichheit sein. Denn nicht in der Weise waren da die Menschen von den Naturgesetzen gelöst, daß sie keinen Vorteil und keinen Beistand von den äußeren Einflüssen her in mehr oder minderem Grade empfangen hätten; da ja ihr Leben bereits von der Speise abhing. Und so konnten auf Grund des Einflusses der Luft, des Lichtes u. dgl. die einen stärker, schöner, vollkommener sein wie die anderen; so freilich daß in jenen, über welche andere hervorragten, kein Mangel und keine Sünde gewesen wäre.
c) I. Gregor schließt an dieser Stelle jene Ungleichheit aus, welche aus der Verschiedenheit zwischen dem Zustande der Gerechtigkeit und der Sünde kommt; wonach es sich trifft, daß einzelne von den anderen gestraft werden. II. Die Gleichheit ist die Ursache, daß die gegenseitige Liebe gleich ist. Jedoch kann unter Ungleichen eine höhere Liebe statthaben wie unter Gleichen; wenn auch nicht auf beiden Seiten ein nämlicher Grad der Liebe besteht. Denn der Vater liebt den Sohn der Natur nach mehr wie der Bruder den Bruder; und trotzdem liebt der Sohn nicht so sehr den Vater, wie er von ihm geliebt wird. III. Die Ursache der Ungleichheit kann auf seiten Gottes sein; nicht zwar daß Er einige belohnte und andere strafte, sondern daß Er den einen eine höhere Vollkommenheit verleiht wie den anderen, damit so die Schönheit des All um so heller leuchte. Und von seiten der Natur kann, wie oben bemerkt, ebenfalls eine Ursache für Ungleichheit bestehen.
