Vierter Artikel. Im Urzustande waren die einen die Oberen der anderen.
a) Das scheint nicht. Denn: I. Augustin sagt (10. de Civ. Dei 13.): „Der vernünftige, nach dem Bilde Gottes gemachte Mensch sollte über die vernunftlosen Tiere herrschen; nicht der Mensch über den Menschen, sondern der Mensch über das Vieh.“ II. Daß der Mensch dem Menschen untergeben sei, ist als Strafe der Sünde eingeführt. Denn dem Weibe wurde gesagt: „Unter der Gewalt des Mannes wirst du sein.“ (Gen. 3, 16.) Also im Urzustände war keine Unterordnung des Menschen unter den Menschen. III. Die Unterordnung ist der Freiheit entgegengesetzt. Die Freiheit aber ist eines der kostbarsten Güter, welches im Stande der Unschuld nicht fehlen durfte, „wo nichts fern war, was der Wille wünschen konnte.“ (14. de Civ. Dei cap. 10.) Auf der anderen Seite war die Lage der Menschen im Urzustande keine würdevollere wie die der Engel. Bei den Engeln aber ist Unterordnung der einen unter die anderen; wird ja doch ein ganzer Chor als der der Herrschaften genannt.
b) Ich antworte, daß mit dem Ausdrucke „Herrschen, Herr sein“ ein doppelter Begriff verbunden wird: einmal ist Herrschen dem „Dienen, Knecht sein“ entgegengesetzt; und so war der Mensch im Urzustande nicht „Herr“ des anderen. Dann ist das „Herrschen“ gebraucht wie „Regieren, Leiten“ und erstreckt sich auf freie Menschen; und so hätte es im Urzustande sein können. Der „Knecht“ nämlich ist darin unterschieden vom „Freien“, daß der „Freie“ den Grund seiner Handlungen in sich hat und darüber sich selber bestimmt und Rechenschaft giebt; der „Knecht“ aber ist bestimmt für den anderen, zu dessen Nutzen er arbeitet, und der ihm befiehlt, ohne daß der „Knecht“ weiß warum. Dann also herrscht jemand über Knechte, wann er seine Untergebenen einzig auf seinen eigenen Nutzen bezieht. Weil nun jeder seine eigene Vollendung, sein eigenes Beste von Natur aus sucht; und weil deshalb es für ihn ein Gegenstand der Trauer ist, wenn jenes Gut, was das seinige sein müßte, dem Nutzen eines anderen dient, so kann eine solche Unterordnung nur als Strafe für die Untergebenen bestehen. Folglich war sie im Urzustande nicht. Über Freie aber herrscht jemand, wenn er dieselben zu ihrem eigenen Besten leitet oder zum Besten des Ganzen. Und ein solches Herrschen wäre im Stande der Unschuld gewesen aus zwei Gründen: 1. weil der Mensch von Natur gesellschaftlich ist, zur Gesellschaft gehört. Sonach hätten die Menschen im Urzustande in Gesellschaft gelebt. Ein gesellschaftliches Leben kann aber nicht bestehen, ohne daß jemand den Vorsitz hat, welcher das allgemeine Beste berücksichtigt. Denn wo viele sind, da bestehen an und für sich viele Absichten; wo aber nur einer ist, da ist auch nur ein Zweck. Und deshalb sagt Aristoteles: So oft viele Dinge zu einer Einheit verbunden werden, ist etwas vorhanden, was an der Spitze steht, leitet und lenkt. Wenn 2. zudem in Wissenschaft und Gerechtigkeit ein Mensch den anderen überragte, wie eben auseinandergesetzt worden, so wäre es unzulässig gewesen, wenn dies nicht zum Besten aller gedient hätte; wie 1. Petr. 4, 10 es heißt: „Ein jeder soll die Gnade, die er erhalten, zum Besten des anderen benutzen.“ Deshalb sagt Augustin (19. de Civ. Dei 14.): „Die Gerechten befehlen; nicht aus Herrschbegier, sondern um zu raten und zu nützen;“ und cap. 15.: „So will es die natürliche Ordnung; so hat Gott die Natur des Menschen gemacht.“
c) Damit ist zugleich auf alle Einwürfe erwidert.
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