Vierter Artikel. Der Lebensbaum.
a) Der Baum des Lebens im Paradiese konnte nicht die Ursache der Unsterblichkeit sein. Denn: I. Nichts kann einwirken, außer mit der Kraft, die seiner Gattungsstufe eigen ist. Der Baum des Lebens aber war vergänglich; sonst hätte er nicht als Nahrung dienen können, welche ja in die Substanz des Genährten übergeht. Er konnte also nicht Unvergänglichkeit erzeugen. II. Die Wirkungen, welche von Pflanzen und dergleichen natürlichenDingen ausgehen, sind natürliche. Also wäre die Unsterblichkeit im Paradiese etwas Natürliches gewesen. III. Das scheint zudem auf die alten Fabeln zurückzugehen, nach denen die Götter etwas Süßes aßen und so Unsterblichkeit erreichten. Aristoteles(3 Metaph.) verlacht bereits diese Fabeln. Auf der anderen Seite steht geschrieben Gen. 3, 22.: „Damit er nicht etwa seine Hand ausstrecke und nehme vom Baume des Lebens und lebe in Ewigkeit.“ Augustin sagt zudem (Qq. vet. et novi Test. 19. alius auctor.): „Der Baum des Lebens behütete die Unsterblichkeit des Lebens. Auch nach der Sünde nämlich konnte der Leib der Auflösung widerstehen, wenn der Mensch von diesem Baume hätte essen dürfen.“
b) Ich antworte; der Baum des Lebens verursachte in gewisser Weise, nicht aber für sich allein die Unsterblichkeit des Leibes. Zwei Mängeln gegenüber hatte nämlich der Mensch im Urzustande Heilmittel, um sein körperliches Leben zu erhalten. Der erste Mangel war der Verlust des feuchten, zum Leben notwendigen Elementes, infolge der Einwirkung der natürlichen Wärme, welche ein Werkzeug der Seele ist; gegen diesen Mangel hatte der erste Mensch als Nahrung alle Bäume des Paradieses, wie wir auch jetzt, um diesem Mangel abzuhelfen, Nahrung zu uns nehmen. Der zweite Mangel ist, daß etwas, welches von außen her genommen worden ist wie eben die Nahrung im menschlichen Leibe, wenn es hinzutritt zu dem Feuchten, was bereits da war, die natürliche Kraft der Gattung vermindert; etwa wie das zum Weine gemischte Wasser zuerst wohl vollständig in den Geschmack des Weines übergeht, tritt es aber in größerer Menge und öfter hinzu, so vermindert es die Kraft des Weines und endlich wird der Wein wässerig. Ähnliches sehen wir im Menschen. Im Anfange ist die Kraft der Gattungsnatur so stark, daß sie die Nahrung nicht nur in die eigene Substanz verwandeln kann, um das Verlorene zu ersetzen, sondern auch um zu wachsen. Nachher aber genügt die betreffende Kraft nicht mehr, um das Wachstum zu befördern, sondern ist nur für die Nahrung hinreichend. Endlich genügt sie aber auch dafür nicht mehr; es folgt das Hinschwinden im Alter und schließlich die Auflösung des Körpers. Gegen diesen Mangel half dem Menschen der Baum des Lebens. Denn seine Frucht hatte die Kraft, die Gattungskraft im Menschen zu unterstützen gegen die Schwäche, welche aus der Vermengung mit auswärtigen Elementen hervorgeht. Deshalb sagt Augustin (14. de Civ. 26.): „Speise ward dem Menschen, daß er nicht hungere; Trank, daß er nicht dürste; der Baum des Lebens, daß das Alter ihn nicht auflöse,“ und anderswo: „Der Baum des Lebens war wie eine Medizin gegen den Tod.“ Er verursachte also nicht für sich allein die Unsterblichkeit. Denn die Kraft in der Seele, welche den Körper zusammenhielt, kam nicht von ihm; wie auch die Nährkraft in der Seele nicht von der Nahrung herrührt. Und ebensowenig konnte er dem Körper es verleihen, daß er nimmer sich auflöse, da die Kraft jeglichen Körpers eine begrenzte ist. Nur also bis zu einer gewissen Zeit half die Frucht des Lebensbaumes; und war diese Zeit Verstrichen, so wäre der Mensch entweder in das ewige Leben verpflanzt worden oder er hätte von neuem davon nehmen müssen.
c) Damit ist den Einwürfen geantwortet. Denn der Lebensbaum verursachte nicht aus sich heraus und allein die Unsterblichkeit; sondern hinderte wie eben auseinandergesetzt die Auflösung des Körpers.
