[Vorwort]
S. 58 Der vorliegende Brief oder richtiger aszetische Traktat war bisher allgemein bekannt unter dem Titel „Über die Bewahrung der Jungfräulichkeit“, den Hilberg in seiner neuen kritischen Ausgabe hat fallen lassen, obwohl er bereits den Zeitgenossen wie Rufin geläufig war. 1 Unter den vier aszetischen Briefen, welche ex professo das Leben der Jungfrau, der Witwe, des Priesters und des Mönches regeln wollen, ist er der älteste. 2 Aus mannigfachen Gründen kommt ihm eine besondere Bedeutung zu.
In Begleitung der Bischöfe Paulinus von Antiochien und Epiphanius von Salamis war Hieronymus im Jahre 382 auf Einladung des Papstes Damasus zu einer Synode nach Rom gekommen. Epiphanius stieg im Hause der Paula ab, die zwei Jahre vorher durch den Tod von ihrem Gatten Toxotius getrennt worden war und als Witwe ein Leben der Zurückgezogenheit, Aszese und Wohltätigkeit führte. Auch Paulinus genoß häufig die Gastfreundschaft dieses vornehmen römischen Hauses. 3 Durch beide wurde auch Hieronymus mit Paula bekannt, die ihm bis zu ihrem Tode in reiner, auf der Arbeit für Christus gründender Freundschaft verbunden blieb. Ihre dritte Tochter Eustochium, das würdige Abbild ihrer S. 59 Mutter, lernte etwa siebzehnjährig Hieronymus kennen dem sie sich als gottgeweihte Jungfrau mit der gleichen Anhänglichkeit anschloß wie ihre Mutter. Es war ohne Zweifel ein großes Opfer, das die junge Römerin, die verwöhnte Tochter eines Hauses, das alles bot, was das Leben angenehm machen konnte, dem himmlischen Bräutigam brachte. Die Gefahr der Unbeständigkeit war nicht ohne weiteres gebannt, zumal bekannt ist, daß sich Einflüsse geltend machten, um das junge Mädchen der Welt und ihren Freuden zurückzugewinnen. 4 In dem vorliegenden Büchlein, das natürlich auch für die Allgemeinheit bestimmt war, sucht Hieronymus seine jugendliche Schülerin gegen die drohenden Gefahren zu feien. Nicht das Hohe Lied der Jungfräulichkeit will er singen, sondern er gibt praktische Winke, wie die Jungfrau ihr Leben einzurichten hat, um standhaft zu bleiben und nicht vom gewählten Wege abzuirren. In keiner seiner späteren aszetischen Schriften hat er sich zu der Frage so eingehend und umfassend geäußert wie hier. Man kann Grützmacher zustimmen, wenn er schreibt, man könne Hieronymus nicht die Anerkennung versagen, daß er im ganzen maßvoll und geschickt verfahren ist, ohne pedantisch zuviel festzulegen. 5 Allerdings enthält der Brief, der versucht, die Jungfräulichkeit theologisch zu stützen, den schärfsten Angriff gegen die Ehe, die er irrig als Folge der Sünde hinstellt, während der Mensch im Urzustand jungfräulich gewesen sei. 6 Im großen und ganzen ist der Inhalt des Briefes nicht veraltet und er wirkt auch heute noch in der katholischen Aszese, besonders innerhalb des Ordenslebens, nach. Nur fällt auf, daß die körperliche Arbeit keine Erwähnung findet, ein Mangel, der in anderen Briefen, welche den gleichen Gegenstand behandeln, beseitigt ist. 7
Stilistisch ist der Brief eine glanzvolle Leistung. Ernst und Satire wechseln oft miteinander ab, und eine Reihe eingestreuter Episoden wirkt nicht nur belehrend, sondern gibt dem Brief den Reiz besonderer Frische. S. 60 Immerhin wirken die zahlreichen Bibelzitate etwas schleppend. Die Technik der glatten Naht ist dem Schreiber in späteren Briefen geläufiger.
Der Brief hat aber auch noch eine andere weittragende Wirkung erzielt. Um den Kern Hieronymus, Paula, Eustochium sammelte sich ein Kreis ernster aszetischer Frauen, die der Meister unterwies und die seine Ideale zu verwirklichen suchten. Hieronymus wirkte in Rom als Reformator, und wir dürfen uns keinem Zweifel darüber hingeben, daß sein knapp dreijähriger Aufenthalt in der Hauptstadt das innere Leben der christlichen Gemeinde gewaltig aufrüttelte. Mochte man, so lange er innerhalb des Frauenzirkels wirkte, vielleicht nicht klar wissen, was er eigentlich bezweckte, so lag jetzt nach den knappen Hinweisen in dem Libellus gegen Helvidius eine programmatische Schrift vor, die jedem klar und deutlich zeigte, welches das Ziel war. Hieronymus wollte eine Verinnerlichung und Vertiefung des echten christlichen Lebens, vor allem bei denen, die sich durch die Wahl eines von der Kirche geschätzten Standes in besonderer Weise mit dieser verbunden hatten. Er kämpfte für das Sein gegen den Schein, für die Wahrheit gegen Kompromisse, für das Entschiedene gegen die Halbheit. Jungfrauen, Witwen, Kleriker und Mönche, die den Gefahren des Milieus sich nicht zu entziehen verstanden, greift er rücksichtslos an, wenn es auch nicht an rhetorischen Übertreibungen fehlen mag. Immerhin steht fest, daß die Kirche in Rom sich mächtig gegen den Strudel des sinkenden Heidentums zu wehren hatte. Es leuchtet ein, daß alle, die in ihrer behaglichen Ruhe gestört wurden, zusammen mit denen, die aus Grundsatz jeden frischen Zug bekämpfen, dem Reformator aufsässig wurden und nur auf den Augenblick warteten, wo sie ihn unschädlich machen konnten. Dies war der Fall, als der Tod die schätzende Hand des Papstes Damasus erschlaffen ließ. Der Brief wurde für Hieronymus die Brücke, die von Rom nach Bethlehem fährte.
Wenn Grützmacher den Brief „ein Spiegelbild seines fragwürdigen Charakters“ nennt, wenn er „die alte Lüsternheit“, die er immer wieder durchschimmern sieht, geißelt, so läßt sich zur Entschuldigung nur anführen, S. 61 daß Grützmacher im ersten Bande sich noch nicht zu der mehr objektiven Stellung durchgerungen hat, wie sie die späteren Bände erfreulicherweise zeigen.
Der Brief wurde verfaßt im Jahre 384, da er zehn Jahre älter ist als der um 394 entstandene Brief an Nepotian. 8 Er muß nach der Schrift gegen Helvidius geschrieben sein, die er während seines römischen Aufenthaltes herausgab, da sie im Brief erwählt wird. 9
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Rufin, Apolog. c. Hier. II 5 (M PL XXI 587). ↩
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Ep. 54 ad Furiam; ep. 52 ad Nepotianum; ep. 125 ad Rusticum monachum (s. S. 148 ff., 122 ff., 214 ff.). ↩
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Ep. 108, 6 ad Eustochium (BKV XV 100 f.). ↩
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Ep. 107, 5 ad Laetam (s. S. 392). ↩
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Gr. I 262. ↩
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Ep. 22, 19. ↩
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Vgl. dazu ep. 107, 10 ad Laetam (s. S. 398); ep. 125, 11 ad Rusticum (s. S. 227); ep. 130, 15 ad Demetriadem (s. S. 266. ↩
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Ep. 52 ad Nepot. ↩
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Ep. 22, 22. Über die Festlegung innerhalb des Jahres 384 vgl. die ausführlichen Untersuchungen Cavalleras (II 23 ff.). ↩