Erster Artikel. Der erste Mensch hat Gott nicht kraft des göttlichen Wesens geschaut.
a) Dem entgegen sagt: I. Damascenus (2. de orth. fide cap. 11.): „Der erste Mensch im Paradiese hat ein seliges und nach allen Seiten hin reiches Leben geführt;“ und Augustinus (14. de civ. Dei 10.): „Hatten die Menschen jene Neigungen, welche wir haben, wie waren sie dann selig in jenem Orte unbeschreiblichen Glückes, d. h. im Paradiese?“ Seligkeit aber schließt ein das Schauen Gottes kraft des göttlichen Wesens. II. Augustin (de civ. Dei 10.) schreibt: „Dem ersten Menschen mangelte nichts von dem, was ein guter Wille erreichen kann.“ Das Beste aber, was der Wille erreichen kann, ist die Anschauung des göttlichen Wesens. III. „Gott schauen kraft seines Wesens“ heißt „Gott schauen ohne weitere Vermittlung“ und ohne in Rätseln zu schauen. Gott aber schaute der erste Mensch ohne Vermittlung, wie Petrus Lombardus sagt. Auch nicht in Rätseln schaute er Ihn, denn in Rätseln schauen heißt dunkel schauen. Das Dunkel in der Erkenntnis aber ist erst durch die Sünde eingetreten. Auf der anderen Seite sagt der Apostel (1. Kor. 15, 46.): „Nicht zuerst was geistig ist, sondern was sinnlich ist.“ Im höchsten Grade aber geistig ist es, Gott kraft des göttlichen Wesens zu schauen. Also hat der Mensch im ersten Zustande des sinnlichen Lebens Gott nicht vermittelst des göttlichen Wesens gesehen.
b) Ich antworte, daß der erste Mensch nach dem gewöhnlichen Zustande jenes Lebens Gott nicht durch das göttliche Wesen gesehen hat, außer vielleicht in der Verzückung, „als Gott auf Adam Schlaf senkte.“ Und der Grund davon ist dieser. Da die göttliche Wesenheit selber die Seligkeit ist, so verhält sich die Vernunft dessen, der das göttliche Wesen schaut, wie sich jeder Mensch zur Seligkeit verhält. Offenbar aber kann kein Mensch kraft seines Willens von der vollen Seligkeit sich abwenden. Denn mit seiner ganzen Natur und mit Notwendigkeit will der Mensch selig sein und flieht er das Elend. Also Niemand, der das Wesen Gottes schaut, kann davon sich abwenden und sonach sündigen. Da nun Adam gesündigt hat, so folgt notwendig, daß er nicht Gott kraft des göttlichen Wesens gesehen. Adam erkannte jedoch Gott in einer höheren Weise wie wir jetzt; und so war seine Kenntnis in der Mitte zwischen der Kenntnis des gegenwärtigen Zustandes und derjenigen, welche die Heiligen im Himmel haben. Um dies recht zu begreifen, muß man erwägen, daß dem Schauen Gottes vermittelst des göttlichen Wesens gegenübersteht das Schauen Gottes vermittelst der Kreaturen. Je mehr aber eine Kreatur erhaben und Gott ähnlich ist, desto klarer wird Gott durch sie gesehen; wie ein Mensch vollkommener gesehen wird, wenn sein Bild ausdrücklicher im Spiegel wiederscheint. Und deshalb wird Gott bei weitem klarer erkannt vermittelst vernünftiger Kreaturen als vermittelst körperlicher und sinnlich wahrnehmbarer. Nun hindert den Menschen in der vollendeten und lichtvollen Betrachtung der vernünftigen und deshalb von der Vernunft ohne weiteres erkennbaren Wirkungen Gottes der gegenwärtige Zustand in der Weise, daß er von den sinnlichen Dingen aus zerstreut wird und um ihretwillen sich beschäftigt. Dies Letztere bestand aber beim ersten Menschen nicht. Denn „Gott machte den Menschen aufrecht“, heißt es Ekkle. 7, 30. Und darin gerade bestand dieses Aufrechte, daß das Niedrigere dem Höheren unterthan war und das Höhere vom Niedrigeren aus nicht gehindert wurde. Der erste Mensch also wurde durch keine äußeren Dinge von der klaren und beharrlichen Betrachtung der vernünftig erkennbaren Wirkungen Gottes abgehalten, welche er vermittelst der Strahlen der ersten Wahrheit wahrnahm, sei es kraft seiner Natur sei es kraft der Gnade. Deshalb sagt Augustin (11. sup. Gen. ad litt. c. 33.): „Vielleicht sprach Gott vor der Sünde mit den ersten Menschen, wie Er mit den Engeln spricht, indem Er mit der unwandelbaren Wahrheit ihren Geist erleuchtete; wenn auch nicht in so hohem Grade, wie die Engel es fassen können.“ Vermittelst solcher vernünftig erkennbaren Wirkungen also erkannte der erste Mensch Gott klarer wie wir jetzt.
c) I. Der erste Mensch hatte im Paradiese nicht jene vollkommene Seligkeit, welche in der Anschauung des göttlichen Wesens besteht; zu dieser sollte er erst gelangen. Wohl aber hatte er in gewisser Weise ein seliges Leben, insoweit er eine gewisse natürliche Unverdorbenheit und Vollkommenheit besaß. II. Ein guter Wille ist ein geordneter Wille. Der Wille des ersten Menschen wäre aber nicht geordnet gewesen, wenn er da, wo er verdienen sollte, das hätte haben wollen, was ihm als Lohn verheißen ward. III. Eine doppelte Vermittlung giebt es für das Erkennen: die eine,in welcher zugleich gesehen wird, was vermittelt wird; wie wenn ein Mensch vermittelst des Spiegels und zugleich mit dem Spiegel gesehen wird; — die andere Vermittlung ist die, durch welche wir von etwas Bekanntem zu Unbekanntem geführt werden; wie wenn vermittelst eines Beweisgrundes etwas erschlossen wird. Die erste Vermittlung hatte auch der erste Mensch; die zweite rücksichtlich Gottes nicht. Denn er brauchte nicht erst vermittelst eines Beweises von der Wirkung aus zur Kenntnis Gottes emporzusteigen, wie wir das notwendig haben. Vielmehr erkannte er die Wirkungen und zugleich in ihnen wie in einem Spiegel Gott in seiner Weise. Auch das Dunkel des Rätsels kann in zweifacher Weise aufgefaßt werden: einmal, insofern jede Kreatur etwas Dunkles ist mit der göttlichen Helle verglichen; — und dieses Dunkel war in der Kenntnis des ersten Menschen. Dann, insofern auf Grund der Sünde der Mensch abgehalten wird von der reinen vernünftigen Betrachtung durch die Beschäftigung mit dem Sinnlichen; dieses Dunkel belästigte den ersten Menschen nicht.
