47. Von der Keuschheit der beiden Liebenden
Zu derselben Zeit lebte ein vornehmer Mann zu Arvern mit Namen Jnjuriosus, der hatte große Schätze und freite um ein Mädchen, das gleich ihm begütert war, gab den Brautschatz und setzte den Hochzeitstag fest. Sie waren aber beide die einzigen Kinder ihrer Eltern. Als nun der bestimmte Tag kam, wurde die Hochzeitsfeier angeftellt und ihnen beiden zusammen nach der Sitte das Lager bereitet. Aber das Mädchen betrübte sich sehr, wandte sich von dem Bräutigam und weinte bitterlich. Da sprach er zu ihr: »Was fehlt dir? Bitte, sage es mir!« Sie aber schwieg. Da fuhr er fort: »Ich beschwöre dich bei Jesu Christo, dem Sohn Gottes, daß du mir alles sagst, warum du traurig bist.« Darauf nun wandte sie sich zu ihm und sprach: »Wenn ich auch alle Tage meines Lebens weinete, würden meine Tränen wohl jemals bannen können den gewaltigen Schmerz, der mein Herz erdrückt? Wisse denn, ich hatte beschlossen, meinen Leib unbefleckt von eines Mannes Berührung Christo zu bewahren. Aber wehe mir, daß ich so von ihm verlassen bin und meinen Willen nicht zu erfüllen vermag, denn an diesem letzten Tage, den ich nimmer hätte sehen sollen, verlor ich, was ich von Anbeginn meines Lebens bewahret hatte. Denn siehe da, Christus hat mich verlassen, der Unsterbliche, der mir zur Morgengabe das Paradies versprach, und eines Sterblichen Gemahl bin ich geworden. Statt unverwelklicher Rosen zierh Mit! schändkt Mkch nun ein Kranz welker Rosen. Und da ich an den vier Flüssen S. 43 des Lammes1 das Gewand der Reinheit anziehen sollte, ist dies Brautkleid mir eine Last, nicht Lust. Aber was bedarf es so vieler Worte? Jch Unglückliche sollte erhoben werden über die Himmel und werde heute in die Tiefe geschleudert. O, wenn das mein Los sein sollte, warum war nicht der Tag, der mir das Dasein gab, auch meines Daseins Ende? Hätte ich doch die Pforte des Todes betreten, ehe ich noch an der Brust der Mutter gelegen! Hätten die lieben Eltern doch damals meine Leiche geküßt! Denn es schaudert mir vor der Erde Pracht, weil ich schaue hinauf zu den Händen des Erlöfers, durchbohrt für das Leben der Welt. Jch sehe nicht auf die Kronen hier, glänzend von hellem Gestein, da jene Dornenkrone vor meinem Sinne schwebt. Nichts gelten mir deine Güter, die weit durch das Land sich erstrecken, denn mein Sinn steht nach des Paradieses Freuden. Mich ekeln Deine weiten Säle, da ich droben thronen sehe den Herrn über den Gestirnen.« Solches sprach sie unter vielen Thränen, und liebreich antwortete ihr der Jüngling:
»Unsere Eltern sind angesehen in dieser Stadt und haben keine Kinder als uns, und sie wünschten uns zu vermählen, daß ihr Geschlecht nicht ausfterbe und daß nicht ein fremder Erbe das Jhre gewinne, wenn sie einst diese Welt verlassen« Sie aber sprach: »Die Welt ist nichts, nichts ihre Reichtümer, nichts der Prunk dieser Zeitlichkeit, nichts dies Leben selbst, das wir hier genießen. Aber jenem Leben müssen wir nachtrachten, das mit dem Tode nicht schließt, das keine Krankheit zerstört und kein Untergang beendet. Denn dort lebt der Mensch in ewiger Seligkeit in einem Lichte, das nimmer erbleicht; und, was mehr ist als alles dies, in der Gegenwart des Herrn selbst, ihn ewig schallevd von Angesicht zu Angesicht, erfreuet er sich, zu dem Stande der Engel erhoben, unvergänglicher Seligkeit« Darauf S. 44 erwiderte er: »Durch deine lieblichen Reden steigt mir gleich wie ein heller Stern das ewige Leben herauf, und willst du also fleischlicher Lust dich enthalten, so will ich gesinnt sein wie du.« Sie aber sprach zu ihm: »Schwer sällt’s dem Manne, dem Weibe dies zu gewähren. Doch kannst du es über dich gewinnen, daß wir unbefleckt bleiben in dieser Welt, so gebe ich dir einen Teil der Morgengabe, die mir mein Bräutigam und mein Herr Jesus Christus verheißen, denn ihm habe ich mich zur Braut und Dienerin gelobt« Da rüstete er sich mit dem Zeichen des Kreuzes und sprach: »Jch werde tun, wie du gesagt« Und sie reichten sich die Hände und schliefen ein.
Viele Jahre ruhten sie danach auf einem Lager, aber stets in rühmlicher Keuschheit, wie sich bei ihrem Heimgange erwies. Denn als das Mädchen den Kampf vollendet und zu Christus ging, und der Mann sie bestatten ließ und in das Grab legte, sprach er also: »Jch danke dir, Jesus Christ, ewiger Herr und Gott, daß ich diesen Schatz, den du mir anvertraut, unverletzh wie ich ihn erhalten habe, deiner Liebe zurückgebe.« Da lächelte jene noch und sprach: »Was redest du und wirst doch nicht gefragt?« Und als sie begraben, folgte er bald ihr nach. Da aber das Grab beider an ganz verschiedenen Seiten gemacht war, geschah ein unerhörtes Wunder, ihre Keuschheit zu zeigen. Denn als am Morgen das Volk zur der Stelle kam, fand es die Gräber beisammen, die doch weit von einander entfernt gewesen waren. Das geschah, damit das Grab des Leibes nicht hier die trenne, welche der Himmel verbunden hatte. Und bis auf den heutigen Tag nennen die Einwohner des Orts sie die beiden Liebenden2, und wir haben ihrer auch Erwähnung getan in dem Buche der Wunder3.
