Vierundzwanzigstes Kapitel. Das Buch des Lebens. Überleitung.
„Nicht darüber freuet euch; freuet euch, weil euere Namen geschrieben sind im Buche des Lebens.“ „Ist also denn Ungerechtigkei bei Gott?“ So hat gefragt und fragt noch immer das ungerechte Gewissen. Sonderbar! Die Heiligen zittern vor ihrer Schwäche. Jeden Augenblick fürchten sie zu fallen in den Abgrund der Sünde. Sie weinen und flehen, büßen und seufzen, arbeiten und mühen sich ab im Dienste Gottes. Nicht sie aber sind es, die trotz ihrer Mühen solche Fragen stellen. Vielmehr antworten sie sogleich mit dem Apostel: „Absit, das sei fern.“ Jene Menschen vielmehr, die auch das kleinste Opfer für ihr Heil nicht bringen, die also keinerlei Mühe dafür aufwenden wollen und somit gar nichts von Gott fordern dürften; die dagegen im Geiste der Welt leben, über den Verlust von ein wenig Geld und Gut Wochen und Monate trauern und alle Vorkehrungen treffen, daß ein solcher Verlust nicht nur nicht mehr vorkomme, sondern reichlich ersetzt werde; — diese Menschen möchten gern die heilige Vorsehung Gottes als einen Deckmantel ihrer Nachlässigkeit und ihrer Sünden benutzen. Auf ihren Lippen schwebt es beständig, wenn sie an den Ernst des Lebens erinnert werden, „Gott ist gut, Gott ist barmherzig; damit glauben sie sich berechtigt, Gottes Ehre mit Füßen zu treten, seine Güte zu mißbrauchen und ihren Leidenschaften zu fröhnen. Die Güte Gottes bildet für sie den Sporn zu Sünden, anstatt sie der Liebe Gottes ähnlich zu machen. Weil Gott gut ist, meinen sie, Er müsse auch schwach sein. „Ist denn Ungerechtigkeit bei Gott,“ fragen sie und meinen damit, es fehle Gott der Mut, gegenüber einer solchen Anklage, welcher die Begierden der Sinne hier auf Erden so manche Berechtigung zu geben scheinen, sich zu verteidigen. Gott könnte gar nicht dem armen Bettler, der alle Schmach und Schande hinnimmt, Hunger und Durst leidet, der im allgemeinen nach außen so wenig bedeutet, jedoch mit ruhigem, friedvollem Herzen all sein Leid Gott zu Ehren trägt, Himmelsherrlichkeit schenken; — und ihnen, die begleitet vom Pompe der Welt stolz im Wagen sitzen und dem Armen kaum einen Blick gönnen, oder wenn dies einmal geschieht, dann immer nur einen Blick hochmütig herablassenden Mitleids, Gott könne nicht zu ihnen sagen: „Weichet von mir, ihr Verfluchten, ins ewige Feuer!“ so denken sie. Da wäre es nach ihnen Gott selber, der zur Sünde sie getrieben, und zwar dadurch, daß Er sie nicht auserwählt hat. Er müßte sie gleichsam zwingen, nicht etwa sich selber zu verleugnen und Ihm nachzufolgen, aber Anteil nehmen zu wollen an seiner Herrlichkeit nach einem Leben, das nicht die Güte Gottes zur Richtschnur genommen, sondern nur und nichts Anderes als die sinnlichen Begierden. Sie haben die ewige Herrlichkeit nie begehrt; und Gott sollte sie ihnen aufdrängen! Nein; o Mensch. „Absit“ sagen wir mit Paulus. Bei Gott ist keine Ungerechtigkeit. Wohl aber verdient es kraft seines bösen Willens der Mensch, daß er verworfen werde. Und wie verdient er es? Unsern Gott kann keiner, auch nicht der leiseste Anteil treffen am Abfalle von Ihm. Wohl aber leuchtet in dem, was der Sünder mißbraucht, immer noch seine Barmherzigkeit hinburch. Daß die Thüre, die der Schreiner, ohne sich viel um den Plan zu kümmern, für den Bau gemacht hat, zum Ganzen nicht paßt; daß sie zu klein oder zu groß oder nicht stilgerecht dasteht; — ist der Plan des Ganzen davon etwa die Ursache? Ist der Baumeister die Ursache? Nein; der Schreiner hat nicht den gehörigen Fleiß darauf verwandt; er hat sich nicht unterrichten wollen, wie sie gemacht werden mußte. Daß aber der Schreiner wirklich arbeitete; daß er das bestimmte Material fand, die passenden Werkzeuge anwandte; mit einem Worte, alles, was gut ist an der Thüre und dem Plane des Ganzen gemäß; all dies kommt vom Plane des Ganzen, vom Baumeister. Aber daß etwas am Material fehlt, daß etwas in der Anwendung der Werkzeuge mangelt; daß er nicht fleißig war, daß seine Kunstkenntnis nicht auf der Höhe der verlangten Arbeit stand, das kommt von ihm, vom Schreiner. Und noch weiter! Kommt es vom Baumeister oder vom Plane, daß nun der ganze Bau für die Augen der Beschauer eine Makel an sich trägt; daß jeder sagt, schade um den Bau wegen der Thüre? Nein; daß der ganze Bau nun unter der fehlerhaften Thüre leidet; dies kommt vom einheitlichen Plane nicht. Alle positive Beziehung wohl zwischen dem einen und dem anderen kommt vom Plane, vom Baumeister. Aber daß der Bau nun auf Grund der Thüre nicht den Charakter der Vollendung trägt; das ist durchaus wider den Charakter des Ganzen und wider den Willen des Baumeisters; davon mißt ein jeder die Schuld dem Schreiner bei. Und es ist geschuldet allein dem Schreiner, daß nicht nur der Teil, wo die verfehlte Thüre steht, sondern das Ganze in ungünstigem Sinne beeinflußt wird durch den von ihm begangenen Fehler. Keinerlei Ungerechtigkeit ist hier auf seiten des kunstreichen Architekten weder für den verfehlten Teil noch für das verfehlte, mangelhafte Ganze. Setze an die Stelle des Schreiners den Sünder; und du hast den Charakter der Sünde, du hast die Unmöglichkeit, davon die Schuld auf Gott zurückzuführen. Daß der Mensch die Willenskraft hat, zu lügen; daß er die Macht hat, die Lüge vorzubereiten in seinem Verstande; daß er die Zunge gebraucht; daß er weiß, er lüge; daß die Menschen ihm glauben; daß seine Lüge so den einen zu nützen scheint, den anderen schadet; — das ist von Gott; da leuchtet überall die Barmherzigkeit Gottes durch. Aber daß dieser Wille nicht der Richtschnur des göttlichen Gesetzes folgt; daß die Vernunft nicht weiter über die Folgen der Sünde nachdenkt; daß der Sünder die Zunge nicht anders gebraucht; das hat Gott nicht gemacht. Das ist weit mehr nicht, als daß es ist; und das Nichts kommt nicht von Gott. Das ist „Schwäche, Ohnmacht“, wie Dionysius sagt, „Regellosigkeit, Fallen, Rechtlosigkeit.“ Daß dann die einzelne Sünde thatsächlich einen Flecken für das Ganze nach sich zieht, daß das Ganze sich dem Grade der Sünde gemäß von Gott abkehrt; das kommt ebenfalls nach der positiven Seite hin von der Einheit, vom Zusammenhange, den Gott in sein All gelegt, wonach „kein Glied leidet, ohne daß alle Glieder leiden“; — daß jedoch das Ganze nun verfehlt erscheint, das ist nicht Gott geschuldet, sondern der Sünde und dem Sünder allein. Und man will die Barmherzigkeit Gottes anklagen, weil Er den Sünder fallen läßt? Aber das Fallen ist zuerst und dann erst die Barmherzigkeit. Priusquam humiliarer, ego deliqui. „Bevor ich gedemütigt wurde in der Sünde, fiel ich.“ Das Nichts der Kreatur war vor dem Sein. Soll Gott etwa den Fallenden immer aufhalten, auf daß sein Fallen kein wirklicher Sündenakt werde! Denn die äußere Wirklichkeit der Sünde, wonach dieselbe ein Sein ist; der positive Willensentschluß, wonach der Sünder die Lüge anhängt, muß doch als Sein wieder von Gott kommen. Soll Gott immer das Ergebnis des Fallens verhüten, indem Er als Hindernis seine Gnade setzt? Das könnte Er wohl. Aber dies gerade wäre gegen seine Barmherzigkeit. Thomas hat dies oben mit so ergreifenden Worten dargethan. Die Barmherzigkeit Gottes eben ist es, welche verlangt, daß alle geschöpflichen Ursachen Geltung und Kraft bekommen, daß sie „an der Würde der verursachenden Kraft teilnehmen“. Soll die Reue keine ursächliche Kraft entfalten? Soll die Geduld, die Liebe, mit welcher die Auserwählten die Peinen ihrer Verfolger tragen, mit welcher der Bettler, der doch auch ein Selbstgefühl hat, die Selbstgefälligkeit des Reichen aushält, sollen diese reichen Tugenden ihre Kraft nicht entfalten? Die Wirklichkeit der Sünde, ihr wirkliches, thatsächliches Sein ist kein Übel; aber die Ohnmacht, welcher dieser Wirklichkeit zu Grunde liegt und die da Macht sein könnte; — sie ist ein Übel. Daß also Gott die Wirklichkeit der Sünde, die Kraft, welche der Sünder für sich freventlich mißbraucht und die doch von Ihm, dem Allbarmherzigen, herrührt; daß Gott alles Positive, wodurch die Sünde sich äußert, zu Werkzeugen der Tugend macht; — das ist eine Wirkung seiner unendlichen Barmherzigkeit. Das ist ebenso, als wenn der Baumeister den Fehler des Schreiners, welcher in der Thüre einmal vor aller Augen dasteht, so zu benutzen weiß, in der Anordnung der Gestalt für die anderen Thüren, für die Fenster u. dgl., daß daraus ein noch schöneres kunstvolleres Ganze entsteht. Damit bleibt der Fehler des Schreiners Fehler; dadurch wird dessen Unkenntnis und Trägheit nicht gebessert oder aus der Welt gebracht. Die fehlerhafte Thüre bleibt fehlerhaft mit Rücksicht auf den Schreiner. Aber der Ruhm des Baumeisters steigt um so höher, wenn er einen Fehler, insoweit seelbiger sich am wirklichen Bau zeigt, zum Besten des Ganzen leiten könnte. Nicht den Fehler als solchen leitet er dahin, sondern was an dem Fehler positiv Wirklichkeit, was Holz, Form etc. ist. So thut etwas Gott rücksichtlich des Universum. Das ist die Barmherzigkeit, von welcher Thomas oben sagte, der Herr benutze alles zum Ruhme seiner Güte und zum Nutzen seiner Auserwählten. Können die Sünder sich beklagen? Inmitten ihrer Sünde genießen sie ja die Gaben der göttlichen Allbarmherzigkeit. „Mitten in dem Genussse und im Gebrauche der von Dir verliehenen Kräfte,“ sagt des Psalmist, Iügen Dir die Feinde.“ (Ps. 65.) Die Gaben, so will er sagen, welche von ihrer Natur aus die Kraft haben, zu Dir zu führen, lenken die Sünder von Dir ab; so daß diese selben Gaben lügen; Ihr Vermögen ist auf Gott gerichtet; und thatsächlich sind sie von Gott abgewandt. Oder will der Sünder etwa nicht die Wollust? Will er nicht Geld und Gut im Übermaße? Will er nicht Stolz und Hochmut? Er will es so, daß er sich gar nicht mehr davon trennen möchte. Er will es so, daß, wenn diese Gegenstande bis ins Unendliche vermehrt würden, er noch nicht zufrieden sein würde. Wer gab dem schlechten Reichen im Evangelium die weichen Leinen und Purpurgewänder? Wer gab ihm so lange Zeit Kraft, Gesundheit, Vermögen, seiner Leidenschaft nachzugehen? Scheint nicht Gott seine eigenen Kreaturen zu Sklaven der Sünde zu erniedrigen, nur aus Barmherzigkeit gegen den Sünder; nur damit dieser nicht des Gegenstandes seiner Begierden beraubt werde? Oder soll Gott am Ende des Lebens den Sünder zwingen, als Zugabe die ewige Herrlichkeit anzunehmen? Aber das ist trotz der Barmherzigkeit und Macht eines Gottes gar nicht möglich. Die ewige Herrlichkeit ist ja Gott selbst, ist die Anschauung des Ewigen. Der Sünder aber will Gott nicht, ist abgewendet von Gott. Wenn er sich täuscht über sein ganzes Leben, so ist das seine Schuld. Der Sünder hat ebensogut das Gesetz Gottes gehört, wie der Gerechte; oder er hatte mindestens ebenso Gelegenheit dafür. Hat er das Gesetz Gottes verschmäht, so geschah dies, weil er dem Gesetze der Sünde anhangen wollte. Daß sich die Gerechten nicht täuschten, als sie Armut, Schande, Abtötung der Sinne wählten, anstatt der Sünde anzuhangen; das war ebenfalls ihr freier Wille. Sie gaben davon bereits hier auf Erden alle Ehre Gott, schrieben Ihm alle Kraft zu und freuen sich nun in Ewigkeit, daß „ihre Namen aufgeschrieben sind im Buche des Lebens“. Jetzt verstehen sie erst, nun sie ihre Namen und ihre Schicksale da selber lesen, wie diese von Ewigkeit her bestimmt waren; jetzt verstehen sie erst die Tiefe der Worte Jesu: „Darüber freuet euch nicht; daß euch die Geister gehorchen: aber darüber freuet euch, daß euere Namen aufgeschrieben sind im Buche des Lebens.“ Und mögen wir die größte Macht haben und die höchste Ehre, mögen alle „Reiche der Welt“ mit allen ihren Schätzen zur Verfügung stehen; — dies darf für uns nicht einmal ein Gegenstand der Freude sein, außer insoweit diese Güter für uns vorgesehen sind im Buche des Lebens und sonach mithelfen zur „Ausführung der seligen Vorherbestimmung. “ Wir müssen uns um so mehr darüber freuen als es so wenige sind nach den Worten Jesu selber, „welche den schmalen Weg finden.“ Das sei unsere höchste Freude „in,der Hoffnung“; das tröste uns inmitten aller Trübsale; das sei der mächtigste Zügel inmitten aller Genugthuung; „daß unsere Namen eingetragen seien im Buche des Lebens.“ Dies sei unsere Devise im Kampfe, unsere Kraft in der Versuchung, unser Schild gegen alle Feinde; die freudige, mir der Hilfe Gottes sichere Zuversicht, von der ungeordneten Menge der Sünder getrennt und enthalten zu sein da oben „im Buche des Lebens“, von wo aus unsere Schritte gelenkt und unsere Füße unter allen verschiedenen, einzelnen Verhältnissen auf den Pfade gestellt werden, der zum Leben führt.
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