Zweiter Artikel. Der Seinscharakter des freien Willens.
a) Es scheint, der freie Wille sei kein Vermögen. Denn: I. Frei sein heißt frei urteilen. Urteilen aber ist eine Thätigkeit. II. Der freie Wille wird als die Thätigkeit der Vernunft und des Willens bezeichnet. Fähigkeit aber drückt vielmehr die Leichtigkeit aus, mit der ein Vermögen zur Thätigkeit sich wendet; und eine solche Leichtigkeit kommt von der Gewohnheit und dem dadurch erzeugten Zustande. Also ist die Freiheit eine Gewohnheit oder ein Zustand, was auch Bernardus (de gratia et lib. arb. cap. 2.) sagt: „Die Freiheit ist ein Zustand der Seele, kraft dessen sie Gewalt hat über sich selbst.“ III. Kein von der Natur kommendes Vermögen verliert sich durch die Sünde. Die Freiheit aber wird durch die Sünde hinweggenommen. Denn Augustin sagt (in Enchir. cap. 30.): „Der Mensch hat durch den schlechten Gebrauch seines freien Willens sich selbst und diesen verloren.“ Auf der anderen Seite ist der freie Wille Träger oder Subjekt der Gnade. Nur ein Vermögen aber, nicht ein Zustand kann ein solcher Träger oder kann Subjekt sein.
b) Ich antworte, nach seiner eigentlichen Bedeutung bedeute der freie Wille eine Thätigkeit; gemäß der gewöhnlichen Sprachweise jedoch drücke derselbe das Princip dieser Thätigkeit aus, wodurch nämlich der Mensch frei urteilt. Nun ist in uns entweder ein Zustand oder eine Gewohnheit Princip der Thätigkeit; oder es ist dies ein Vermögen an sich oder ein Vermögen, insoweit es mit einem Zustande behaftet ist. Denn wir erkennen sowohl kraft der Wissenschaft, d. h. kraft eines Zustandes in uns, als auch kraft des bloßen Vernunftvermögens selber. Daß aber der freie Wille weder ein Zustand ist noch ein mit einem Zustande behaftetes Vermögen, geht aus zwei Umständen hervor: 1. Ist der freie Wille Zustand oder Gewohnheit in uns, so muß er mit der Natur gegeben sein; denn natürlich ist es dem Menschen, freien Willen zu haben. Rücksichtlich dessen aber, was unserem freien Willen unterliegt, kann ein mit der Natur gegebener Zustand nicht in uns sein. Denn dem, wofür wir von Natur einen Zustand in uns haben, hängen wir von Natur an; wie der Mensch z. B. kraft eines natürlichen Zustandes in ihm den ersten Vernunftprincipien beistimmt. Dem wir aber von Natur anhängen, das steht nicht unter unserem freien Willen; wie z. B. die Neigung zum Endwohle, zur Seligkeit nicht unserer freien Wahl unterliegt. (Kap. 82, Art. 1 und 2.) Also gegen das Wesen des freien Willens ist es, daß er ein Zustand sei. Also ist er in keiner Weise Zustand oder Gewohnheit. 2. Gemäß den Zuständen oder Gewohnheiten verhalten wir uns zu gewissen Leidenschaften oder Thätigkeiten in ganz bestimmter Weise entweder gut oder schlecht. Denn (2 Ethic. 5.) durch den Zustand der Mäßigkeit z. B. verhalten wir uns gut, d. h. in richtiger Weise zu den Begierlichkeiten; durch die Unmäßigkeit aber schlecht. Durch die Wissenschaft verhalten wir uns gut zur Thätigkeit des Erkennens, wodurch wir das Wahre erfassen; durch den gegenteiligen Zustand aber schlecht. Der freie Wille nun ist seiner Natur nach gleichgültig; er kann das Gute oder Schlechte wählen. Somit ist er unmöglich und in keinem Sinne ein Zustand. Also ist er, als Princip der freien Thätigkeit aufgefaßt, reines Vermögen.
c) I. Man ist gewohnt, das Vermögen mit dem Namen der ihm entsprechenden Thätigkeit zu benennen. Also auf Grund dieser Thätigkeit, die da ist „freie Wahl“, wird das Princip benannt. Sonst bliebe die Freiheit nicht im Menschen, da die freie Thätigkeit beständig vergeht. II. „Fähigkeit“ bedeutet ein Vermögen, welches zum Thätigsein bereit ist und so wird dieses Wort in die Definition gesetzt. Bernardus bezeichnet nur die gewohnheitsmäßige, in der Natur des Vermögens gelegene Beziehung zum freien Akt; wie der Mensch durch ein Vermögen vermögend ist zu wirken; durch einen Zustand aber bereit, gut oder schlecht zu wirken. III. Der Mensch verliert durch die Sünde seine Freiheit; weil er nicht mehr frei ist von Sünde und Elend.
