Dritter Artikel. Der freie Wille ist ein Begchrungsvermögen.
a) Der freie Wille scheint vielmehr Erkenntniskraft zu sein. Denn: I. Damascenus sagt: „Mit der Vernunft ist allsobald der freie Wille verbunden.“ (2. orth. fide cap. 17.) Die Vernunft aber ist Erkenntniskraft. II. Freie Willensentscheidung ist dasselbe wie freies Urteil. Urteilen aber gehört der Vernunft an. III. Der freie Wille scheint in der freien Wahl zu bestehen. Wählen aber schließt in sich ein das Vergleichen des einen mit dem anderen, was der Kenntnis eigen ist. Auf der anderen Seite sagt Aristoteles (3 Ethic. cap. 2.): „Wahl ist das Verlangen nach dem, was in uns ist.“ Verlangen aber ist die Thätigkeit einer Begehrungskraft; und freier Wille ist in uns auf Grund der Wahl.
b) Ich antwone; dem freien Willen wesentlich eigen ist die Wahl. Denn deshalb sind wir frei, weil wir das eine festhalten und das andere abweisen können, was eben „wählen“ ist. Und deshalb muß man die Natur der Freiheit bemessen gemäß dem Umstände, daß es ihr zugehört zu wählen. Zur Thätigkeit des Auswählens aber gehört etwas von seiten der Erkenntnis und etwas von seiten des Begehrens. Von seiten des Erkennens wird aufgefaßt und beurteilt, was denn aus mehreren Dingen vorzuziehen sei. Von seiten der Begehrungskraft wird im Begehren angenommen, was durch Beratschlagung erkannt worden. Und deshalb läßt es Aristoteles zweifelhaft, ob die freie Wahl mehr der Vernunft angehöre oder mehr dem Willen. Denn er sagt, sie sei entweder eine begehrende Vernunft oder vernünftiges Begehren. In Ethic. 3, 5. aber neigt er mehr dazu hin, daß hier ein vernünftiges Begehren vorliege; denn er nennt die freie Wahl ein Verlangen, welches auf vorhergehender Beratschlagung beruht. Und davon ist der Grund, daß der eigenste Gegenstand der freien Wahl das ist, was zweckdienlich erscheint. Dies aber trägt den Charakter des Guten und wird nützlich genannt. Da also das Gute den Gegenstand des Willens bildet, so ist die freie Wahl in erster Linie ein Akt des Willens oder Begehrens; und demnach ist die Freiheit ein Begehrungsvermögen.
c) I. Die begehrenden Vermögen entsprechen und folgen den auffassenden; und danach spricht Damascenus. II. Das Urteil ist gleichsam der Schlußpunkt der Beratung. Die Beratschlagung aber erhält ihren Abschluß erstens durch die Entscheidung der Vernunft; und dann durch die Annahme dieser Entscheidung von seiten des begehrenden Vermögens. Deshalb sagt Aristoteles (I. c.): „Infolge der Beratschlagung urteilen wir und verlangen demgemäß.“ Und so heißt der freie Wille freie Willensentscheidung oder freies Urteil. III. Dieses Vergleichen gehört der vorausgehenden Beratschlagung an, die der Vernunft entspricht. Das Begehren aber hat wegen seiner Verbindung mit dem Vergleichen der Vernunft eine Ähnlichkeit mit dem Vergleichen selber, indem es das eine dem anderen vorzieht.
