Vierter Artikel. Unsere Vernunft erkennt nicht, was wahrhaft zukünftig ist.
a) Das Gegenteil geht aus folgenden Gründen hervor: I. Die Ideen sehen ab von Zeit und Ort; sind also indifferent allen Zeitdifferenzen gegenüber. Da nun die Vernunft vermittelst der Ideen Gegenwärtiges erkennen kann, so erkennt sie demnach auch Zukünftiges. II. Von den Sinnen gelöst kann der Mensch manches Zukünftige erfassen, wie das aus den Träumen und den Verzückungen hervorgeht. Das geschieht aber, weil der Mensch in diesem Falle in seiner Vernunft freier ist. Also von sich aus kann die Vernunft Zukünftiges erkennen. III. Manche Tiere erkennen Zukünftiges; wie z. B. welches Wetter sein wird, aus ihren Bewegungen erschlossen werden kann. Noch besser also kann die Vernunft Zukünftiges erkennen wie die niedrige Erkenntniskraft der Sinne. Auf der anderen Seite heißt es Ekkle. 8, 6.: „Groß ist das Elend des Menschen; er weiß nicht das Vergangene und kein Bote kann ihm die Zukunft ankündigen.“
b) Ich antworte, über das Zukünftige sei dasselbe Urteil betreffs der vernünftigen Erkenntnis zu fällen wie über das Zufällige. Denn die zukünftigen Dinge selber sind besondere einzelne Ereignisse, welche unter die Zeit fallen und die der menschliche Verstand mittelbar und auf Grund des Allgemeinen erst erfaßt. Die maßgebenden Gründe des Zukünftigen aber können allgemeine und somit von seiten der Vernunft erkennbare sein; und rücksichtlich solches Zukünftigen kann es auch Wissenschaft geben. Sprechen wir über das Zukünftige aber, wie es gemeinhin so genannt wird, so kann man es entweder in sich selber, d. h. in seinem wirklichen Bestände betrachten oder in den Ursachen, von denen es ausgeht. In sich selber wird es erkannt, wenn es als gegenwärtig geschaut wird; — und so erkennt nur Gott die zukünftigen Dinge, weil sein von der Ewigkeit gemessener Blick zugleich Alles sich gegenwärtig hält, was im ganzen Verlaufe der Zeit sich eines nach dem anderen vollzieht. In den Ursachen aber kann das Zukünftige auch von uns erkannt werden; und zwar wird jenes Zukünftige, was aus seinen Ursachen mit Notwendigkeit hervorgeht, mit der Zuverlässigkeit des Wissens geschaut. Was aber von seinen Ursachen nicht mit Notwendigkeit oder nur für gewöhnlich, in den meisten Fällen, ausgeht, das wird nicht mit Zuverlässigkeit erkannt; sondern, je nachdem die Ursachen ihrer Natur nach zu den entsprechenden Wirkungen geeignet sind oder sich hinneigen, mit mehr oder minder großer Wahrscheinlichkeit.
c) I. Was in der Erkenntnisform oder Idee als in der allgemeinen Ursache enthalten ist, das wird mit wissenschaftlicher Sicherheit erkannt, und da macht die Zeit keinen Unterschied. So werden durch die hinreichende Ursache die Wirkungen erkannt. II. Augustinus sagt (7. conf. 6.): „Die Seele hat eine gewisse vorhersehende Kraft, welche auf das Zufällige geht; und deshalb kann sie vermittelst ihrer Natur das Zukünftige voraussehen.“ Dies wäre richtig nach dem System Platos. Denn nach demselben würde die Seele erkennen gemäß der Teilnahme an den stofflosen für sich bestehenden Ideen. Da nun diese Ideen als allgemeine Seinsursachen alles Sichtbare umfassen und das Hindernis für die klare Kenntnis der Seele in den Sinnen liegt, so würde im Traume und in der Verzückung die Seele ihrer Natur folgen und das Zukünftige vermittelst dieser Ideen voraussehen; insofern nämlich das Hindernis, die Thätigkeit der Sinne, einigermaßen entfernt ist. Weil aber diese Art zu erkennen der Natur der menschlichen Seele nicht entspricht, sondern die Kenntnis der Seele vielmehr von den Sinnen her ihren Anfang nimmt; deshalb ist es der Seele nicht natürlich, das Zukünftige zu erkennen, wenn sie den Sinnen entfremdet ist. Sie erkennt dann vielmehr durch den wirkenden Einfluß höherer Ursachen sowohl geistiger Ursachen als stofflicher. Der wirkende Einfluß der höheren geistigen Ursachen besteht nun entweder darin, daß kraft göttlicher Macht durch den Dienst der Engel die Vernunft erleuchtet wird und die Phantasiebilder in die rechte Ordnung kommen, damit in ihnen Zukünftiges geschaut werde; oder darin, daß vermittelst der Dämonen in die Phantasie eine Bewegung kommt, welche die von ihnen erkannten zukünftigen Dinge vorzeigt. (Vgl. Kap. 57, Art. 3 und 4.) Diesen Einfluß von seiten geistiger Ursachen ist die Seele dann geeigneter, in sich aufzunehmen, wenn sie den Sinnen entfremdet ist; denn sie steht dann sowohl den geistigen Substanzen näher als auch ist sie mehr frei von äußeren Störungen. Aber auch von seiten der höheren körperlichen Ursachen wird ein solcher Einfluß ausgeübt. Denn da die Sinneskräfte eine Thätigkeit stofflicher Organe sind, so ist davon die Folge, daß die Einbildungskraft dem Einflüsse des Lichtes der Himmelskörper untersteht, wie alles veränderlich Stoffliche. Da nun die Himmelskörper in ihrer Kraft vieles Zukünftige wie Wetter, Erdbeben, Dürre etc. einschließen, so vollenden sich vermöge ihres Einwirkens in der Phantasie manche Anzeichen zukünftiger Dinge. Diese Anzeichen aber werden wahr-genommen mehr in der Nacht wie am Tage, weil, wie Aristoteles sagt (de somno et vig. cap. 2), „was am Tage von den Himmelskörpern vermittelst des Lichtes zu uns getragen wird, das sich auflöst.“ Denn die Luft in der Nacht ist meist ruhiger und nicht so sehr in Bewegung wie am Tage. Und ebenso dringt die Bewegung, deren Träger die Luft ist, in die Phantasie tiefer hinein im Schlafe als im wachenden Zustande und wird deshalb mehr wahrgenommen; denn die geringeren Eindrücke im Innern der sinnlichen Organe werden besser empfunden von den Schlafenden wie von den Wachenden. Diese Eindrücke und Bewegungen aber sind die Ursachen für die Bildung der Phantasiebilder und aus diesen wird das Zukünftige vor-hergesehen. III. Die Tiere tragen nichts in sich als ordnende Richtschnur ihrer Phantasie; wie dies beim Menschen der Fall ist, der die Vernunft hat. Deshalb folgt die Phantasie der Tiere durchaus und ohne Störung dem Eindrucke, der von den Himmelskörpern ausgeht. Somit können aus den Bewegungen solcher Tiere besser zukünftige Dinge vorher erkannt werden, z. B. Regen und Unwetter, wie aus den Bewegungen der Menschen, welche dem Rate der Vernunft gemäß sich bewegen. Deshalb sagt Aristoteles (l. c.): „Manchmal sehen die thörichtesten Menschen am besten vorher. Denn ihre Vernunft ist ohne Sorge; sie ist wie eine Wüste, leer von Allem und folgt blind dem Antriebe.“
