Zweiter Artikel. Unsere Vernunft erkennt die Zustande in der Seele (wie z. B. den Glauben, die Wissenschaft), die sie in sich hat, nicht durch deren Wesen.
a) Dem stehen entgegen: I. Die Worte Augustins (13. de Trin. cap. 1.): „Nicht so wird der Glaube geschaut im Herzen, in welchem er ist, wie etwa aus den Bewegungen des anderen gesehen wird, dieser andere habe eine Seele; vielmehr hält den Glauben fest die Zuverlässigkeit der Wissenschaft und es verkündet ihn das Gewissen;“ dasselbe gilt von den anderen Zuständen. Dieselben werden also nicht erkannt durch die von ihnen ausgehende Thätigkeit; sondern durch sich selbst, durch ihr Wesen. II. Die stofflichen Dinge, welche außerhalb der Seele sich finden, werden erkannt durch die entsprechenden Ähnlichkeiten, welche in der Seele gegenwärtig sind. Die Zustände der Seele sind aber da gegenwärtig durch ihr Wesen. Also werden sie durch ihr Wesen erkannt. III. Die anderen Dinge werden von der Seele erkannt wegen und auf Grund der Zustände und der Ideen in der Seele. Dessentwegen und auf Grund dessen aber etwas erkannt wird, das ist um so mehr erkannt. Also werden die Zustände in der Seele durch sich selbst erkannt. Auf der anderen Seite sind diese Zustände Principien, aus denen die Thätigkeit hervorgeht. Aristoteles aber sagt (2. de anima): „Der Natur und dem Erkennen nach früher sind die Thätigkeiten wie die Vermögen.“ Aus dem gleichen Grunde aber sind die Thätigkeiten in der Ordnung der Natur und der Erkenntnis auch früher wie die Zustände; letztere werden also gleich wie die Vermögen vermittelst der Thätigkeit erkannt.
b) Ich antworte, daß ein Zustand oder eine Gewohnheit gewissermaßen in der Mitte steht zwischen dem reinen Vermögen und der vollendeten Thätigkeit. Nichts aber wird, wie bereits gesagt worden, erkannt, außer insoweit es Thatsächlichkeit hat und vom bloßen Werden fern ist. Insofern also der Zustand von der vollkommenen Thätigkeit abfällt, fällt er zugleich davon ab, daß er durch sich selbst thatsächlich erkennbar ist; vielmehr ist es erfordert, daß er vermittelst seiner Thätigkeit erkannt werde. Und dafür ist es gleichgültig, ob jemand wahrnimmt, er habe einen Zustand, durch welchen er die Thätigkeit hervorbringe; oder ob er die Natur und das Wesen des Zustandes aus der Erwägung der entsprechenden Thätigkeit ableiten will. Und zwar ergiebt sich die erstgenannte Kenntnis aus der Gegenwart selber des Zustandes; denn von da her eben, daß er gegenwärtig ist, verursacht der Zustand die Thätigkeit, in welcher er sogleich wahrgenommen wird. Die zweitgenannte Kenntnis vollzieht sich durch sorgsame Untersuchung.
c) I. Wenn auch der Glaube nicht aus äußerlichen Bewegungen erschlossen wird, er wird doch von dem, in welchem er ist, wahrgenommen durch die Thätigkeit des innerlichen Herzens. Denn keiner weiß, daß er Glauben habe, außer insoweit er auffaßt, daß er glaubt. II. Die Zustände sind in uns nicht gegenwärtig als Gegenstände unserer Vernunfterkenntnis; denn der Erkenntnisgegenstand unserer Vernunft in diesem Leben ist das Wesen des stofflichen Dinges. III. „Dessentwegen etwas ist, das muß dies im höheren Grade sein;“ dieser Spruch hat Wahrheit, wenn es sich um Dinge auf derselben Rangstufe handelt, wie etwa um ein und dieselbe Art Ursächlichkeit; wie wenn ich z. B. sage: „Um des Lebens wegen ist die Gesundheit erstrebenswert,“ so folgt, daß das Leben als Zweck noch erstrebenswerter ist. Handelt es sich aber um Dinge verschiedener Rangstufen, so ist der Spruch nicht wahr; wie wenn ich sagen wollte z. B.: „Die Gesundheit ist erstrebenswert wegen der Medizin;“ — daraus folgt nicht, daß die Medizin erstrebenswerter ist; denn die Gesundheit steht auf der Rangstufe der Zweckursachen und die Medizin ist in der Reihe der bewirkenden Ursachen. Wenn also zwei Dinge auf der Rangstufe der Erkenntnisgegenstände sich befänden, so wäre jenes, auf Grund oder wegen dessen das andere erkannt würde, mehr bekannt; wie das z. B. die Principien sind, aus denen etwas gefolgert wird. Die Zustände aber stehen nicht auf der Rangstufe der Erkenntnisgegenstände; und nicht wird etwas erkannt wegen des entsprechenden Zustandes, als ob dieser ein erkannter Gegenstand wäre, sondern es wird etwas erkannt auf Grund oder wegen eines Zustandes, weil dieser oder auch die Form das Vermögen vorbereitet zur Thätigkeit, so daß diese daraus wie aus einer wirkenden Ursache folgt.
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