Erster Artikel. Die vernünftige Seele erkennt sich nicht vermittelst ihres Wesens.
a) Das Gegenteil scheint zu lehren: I. Augustin (9. de Trin. 3.): „Der vernünftige Geist erkennt sich selbst durch sich selbst; denn er ist unkörperlich.“ II. Der Engel erkennt sich selbst durch sein Wesen. In der Vernünftigkeit aber kommt der Mensch überein mit dem Engel. III. „In den Wesen, wo kein Stoff sich vorfindet, ist ganz das Nämliche: die Vernunft und was verstanden wird;“ heißt es in 3. de anima. Der menschliche Geist aber ist ohne Stoff; denn er versteht nicht vermittelst eines körperlichen Organs. Also ist die verstehende Vernunft durch ihr Wesen sich selbst erfassend. Auf der anderen Seite sagt Aristoteles (2. de anima): „Die Vernunft versteht sich selbst in gleicher Weise wie sie das Andere erkennt.“ Das Andere aber erkennt sie nicht durch dessen Wesen, sondern durch Ähnlichleiten. Also erkennt sie auch nicht sich selbst durch ihr eigenes Wesen.
b) Ich antworte: Jegliches Ding wird erkannt, je nachdem es thatsächliches Sein besitzt; und nicht je nachdem es etwas werden kann, also nur Vermögen hat. „Es hat ein Ding Sein;“ „es ist somit wahr,“ fällt demgemäß unter die Kenntnis, insoweit es thatsächlich ist. Das erscheint bereits in den sichtbaren Dingen. Denn nicht was farbig werden kann, nimmt das Auge wahr, sondern was thatsächlich farbig ist. Und so verhält es sich ähnlich mit der Vernunft. Denn es ist offenbar, daß unsere Vernunft, soweit sie auf Stoffliches sich richtet, nur erkennt, was und insofern dasselbe thatsächliches Sein hat. Deshalb erkennt sie ja nicht direkt und unmittelbar den Urstoff, der eben seiner Natur nach nur werden kann, also nur Vermögen für das Sein ist; sie erkennt denselben jedoch je nach seinem Verhältnisse zur Wesensform, vermittelst deren das thatsächliche Sein verliehen wird. So ist es denn auch bei den stofflosen Substanzen. So wie nämlich eine jede derselben sich dazu verhält, in welcher Weise sie durch ihr Wesen thatsächliches Sein hat, so verhält sie sich auch dazu, in welcher Weise sie durch ihr Wesen etwas Erkennbares ist. Das Wesen Gottes nun ist reine Thatsächlichkeit, durch und durch vollkommen an und für sich Erkenntnisgegenstand. Deshalb erkennt Gott Sich selber und alles Andere durch sein Wesen. Das Wesen des Engels aber ist wohl im Bereiche des rein Vernünftigen thatsächlich erkennbar, ist aber nicht reine und vollendete Thatsächlichkeit; somit ist sein wirkliches Erkennen auch nicht in seiner Vollständigkeit mit und durch sein Wesen gegeben. Der Engel erkennt also wohl sich selber durch sein Wesen; aber Anderes, als er selbst ist, erkennt er vermöge der Ähnlichkeiten mit den erkannten Dingen. Die menschliche Vernunft aber steht im Bereiche des Vernünftigen da wie nur dem Vermögen nach erkennend; wie etwas, was nur werden kann, von sich aus aber nichts thatsächlich ist. Sie gleicht in ihrer Weise dem Urstoffe, der im Vermögen zu körperlichem thatsächlichen Sein besteht; und deshalb wird sie „mögliche“ Vernunft genannt. Also ihrem Wesen nach ist sie nur dem Vermögen nach erkennend. Sie hat somit in sich die Kraft oder das Vermögen thatsächlich zu erkennen, nicht aber, erkannt zu werden; da nichts erkannt werden kann, insoweit es nur im Zustande des Vermögens sich befindet. Vielmehr wird etwas nur erkennbar, je nachdem es dem thatsächlichen Sein nach etwas wird. So stellten auch die Platoniker die Rangstufe der thatsächlich erkennbaren Wesen über die Rangstufe der bloßen Vernunftkräft e oder Vernunftvermögen; da letztere nur erkennen, wenn das thatsächlich Erkennbare sich mit ihm verbindet und es bethätigt, das Bethätigende oder Mitteilende aber über dem steht, was bestimmt wird und Anteil nimmt. Also würde demgemäß nach den Platonikern die menschliche Vernunft thatsächlich erkennend kraft der Mitteilung, die ihr von den stofflosen Substanzen wird; und vermöge dieser thatsächlichen Teilnahme am Erkennbaren, was die stofflosen Substanzen in sich schließen, würde die menschliche Vernunft sich selbst erkennen. Da aber es dem gegenwärtigen Zustande der menschlichen Vernunft natürlich ist, daß sie ihre allgemeinen Ideen vom Stofflichen loslöst kraft der „einwirkenden“ Vernunft und dadurch das nur der Möglichkeit nach Erkennbare im Stoffe zu thatsächlich Erkennbarem macht; so erkennt sich die menschliche Vernunft nicht zwar durch ihr Wesen, das nur „Vermögen“, „Möglichkeit“ ist, wohl aber durch ihre eigene Thätigkeit. Und zwar vollzieht sich dieses Selbsterkennen in zweifacher Weise: einmal der besonderen erkennenden Person entsprechend; wie wenn Plato oder Sokrates auffaßt, er habe eine vernünftige Seele deshalb, weil er auffaßt, daß er selber verstehe; — dann im allgemeinen, insofern wir aus dem, was wir erkennen, die Natur der vernünftigen Seele an sich betrachten. Dabei bleibt es immerdar wahr, daß die Wirksamkeit dieser Kenntnis und das entsprechende Urteil, wonach wir die Natur der Seele uns vergegenwärtigen, uns zukommt gemäß der Ableitung unseres Verstandeslichtes von der ungeschaffenen Wahrheit, in welcher die Seinsgründe aller Dinge enthalten sind. Deshalb sagt Augustin (9. de Trin. 6.): „Wir schauen die unverrückbare Wahrheit und aus ihr urteilen wir, soweit wir können; nicht wie beschaffen von Natur der vernünftige Geist eines jeden ist, sondern wie er es den ewigen Seinsgründen schuldet, daß er in der Beschaffenheit seiner Natur sei.“ Es besteht jedoch ein Unterschied in diesen beiden Arten des Selbsterkennens. Denn um die erstgenannte zu haben, genügt es, daß unser Geist unserem Erkennen gegenwärtig sei; das nämlich ist das Princip oder der Ausgangspunkt für jene Thätigkeit, vermöge deren der Geist sich selbst als thätigseiend auffaßt. Und so wird gesagt, der Geist erkenne sich durch seine eigene Gegenwart. Um aber die zweitgenannte Art Selbsterkennen zu haben, genügt nicht die einfache Gegenwart, sondern es bedarf einer sorgfältigen Untersuchung. Somit kennen auch Viele nicht die Natur der Seele; und Viele haben rücksichtlich derselben geirrt. Und aus diesem Grunde sagt Augustin (10. de Trin. 9.): „Möge der Geist sich nicht suchen wie etwas, das abwesend ist; sondern er soll sich selbst wie etwas Gegenwärtiges unterscheiden lernen von allem Anderen;“ d. h. er soll untersuchen, worin er sich von den anderen Dingen unterscheidet und so seine Natur kennen lernen.
c) I. Der Geist erkennt sich durch sich selbst, weil er vermittelst seiner Thätigkeit doch am Ende zur Kenntnis seiner selbst gelangt. Denn der Geist wird auf diese Weise gekannt, weil er sich selber liebt und deshalb nach sich selber sucht. „An und für sich, durch sich selbst gekannt sein,“ kann nämlich zuerst von dem ausgesagt werden, was nicht vermittelst eines Anderen gekannt wird; und so sind die ersten Vernunftprincipien aus sich selber klar; — dann aber ist jenes an und für sich und durch sich selbst gekannt, welches auf Grund seiner eigenen Eigentümlichkeit erkannt wird; wie die Farbe z. B. an und für sich Gegenstand des Auges ist, der Körper und die Figur aber nur zufällig, d. h. auf Grund der Farbe. II. Das Wesen des Engels ist Thätigsein im Bereiche des Erkennbaren; und verhält sich deshalb so, wie Vernunft und Erkanntes. Also erfaßt der Engel sich selbst vermittelst seines Wesens. Dies kann aber nicht die menschliche Vernunft, die ihrer Natur nach im Bereiche des Erkennbaren nur etwas „Mögliches“ ist, wie die „mögliche“ Vernunft; oder, wenn sie, wie die „einwirkende“ Vernunft wohl, thatsächlich ist, jedoch nur, insofern sie von den Phantasiebildern das Allgemeine loslöst, nicht aber insofern sie das eigene Wesen bethätigt. III. Das Wort des Aristoteles ist im allgemeinen wahr sowohl für den Sinn wie für die Vernunft. Denn die Vernunft als thatsächlich verstehende ist der Gegenstand, insoweit er thatsächlich verstanden ist, wegen der Ähnlichkeit des erkannten Gegenstandes, welche als die bildende Form in der Vernunft dasteht. Und deshalb wird die menschliche Vernunft sowohl eine thatsächlich erkennende vermittelst der Form oder des Abbildes des erkannten Gegenstandes, als auch versteht sie thatsächlich sich selbst vermittelst dieser selben Form, die ja ihre eigene Form ist. Daß aber gesagt wird: „Wo kein Stoff ist;“ das fällt zusammen mit dem hier Gesagten: „Wo etwas thatsächlich erkannt ist, da ist die Vernunft als thatsächlich erkennende das thatsächlich Erkannte;“ — denn eben dadurch wird etwas thatsächlich für die Vernunft erkennbar, daß es vom Stoffe losgelöst ist. Ein Unterschied besteht höchstens darin: daß von manchen Wesen die Substanz selber stofflos ist, nämlich bei den Engeln, von denen also eine jede zugleich thatsächlich erkennbar und erkennend ist. Andere Dinge aber giebt es, deren Wesenheiten oder Substanzen an und für sich nicht stofflos sind; sondern nur die Ähnlichkeiten derselben, welche losgelöst sind vom Einzelnen, Stofflichen. Deshalb meint Averroës, die angezogene Stelle habe ihre Geltung nur bei den Stofflosen Substanzen.
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