Zweiter Artikel. Der Engel kennt das Einzelne und Besondere im stofflichen.
a) Dem widerspricht: I. Aristoteles mit den Worten (I. Post. c. 22.): „Der Sinn richtet sich auf das Einzelne und Besondere; die Vernunft oder der Verstand auf das Allgemeine.“ Die Engel aber haben keine Sinne. II. Das Princip des Einzelseins ist der Stoff. Der Engel aber ist semer Natur nach stofflos. Also, da jede Kenntnis sich auf Grund einer Verähnlichung mit dem Erkannten vollzieht, hier aber ein geradezu formaler Gegensatz besteht, kann kein Erkennen des Einzelnen seitens der Engel angenommen werden. III. Der Engel müßte das Einzelne erkennen entweder vermittelst allgemeiner Ideen oder einzelner Ideen, von denen nämlich eine jede auf etwas Einzelnes im besonderen geht. Letzteres ist nicht möglich, da in diesem Falle der Engel unbegrenzt viele Ideen haben müßte. Allgemeine Ideen aber sind nicht genügend, um das Einzelne oder Besondere als solches zu erkennen. Auf der anderen Seite kann niemand etwas behüten, was er nicht im einzelnen kennt. Die Engel aber behüten die einzelnen Menschen nach Ps. 90.: „Seinen Engeln hat Er wegen deiner befohlen, daß sie dich behüten auf allen deinen Wegen.“
b) Ich antworte, daß manche annahmen, die Engel wüßten nichts stofflich Einzelnes. Das aber ist zuvörderst gegen den katholischen Glauben, der annimmt, daß die stofflichen Dinge durch Vermittlung der Engel geleitet werden nach Hebr. 1, 14.: „Alle sind dienstbereite Geister.“ Hätten sie aber keine Kenntnis des stofflich Einzelnen, so könnten sie auch nicht vorsorgen für die einzelnen Menschen; was doch ausdrücklich gegen Ekkle. 5. ist: „Sage nicht vor dem Engel, es ist keine Vorsehung.“ Dann widerspricht dies der gesunden Philosophie, welche die Engel als die bewegenden und Anstoß gebenden Kräfte der Himmelskörper betrachtet; und die da lehrt, daß sie dieselben bewegen gemäß ihrer Vernunft und ihrem Willen. Deshalb meinten andere, der Engel kenne wohl das stofflich Einzelne, jedoch nur gemäß den allgemeinen Ursachen und Principien, auf welche die besonderen Dinge sich zurückführen lassen; wie z. B. der Astronom über die künftige Sonnenfinsternis urteilt aus der Stellung und dem Verhältnisse der Himmelskörper, respektive ihrer Bewegungen zu einander. Damit aber wird die Schwierigkeit nicht gehoben. Denn so erkennen heißt nicht das Einzelne selber als solches erkennen, soweit es nämlich in diesen bestimmten Zeit- und Ortsverhältnissen ist. Daß man sagen könne, der Astronom z. B. kenne die Sonnenfinsternis als eine einzelne, dazu wird erfordert, daß er sie mit den Sinnen als eine gegenwärtige erfasse. Deshalb muß man anders sagen; und zwar so: Gleichwie der Mensch mit seinen verschiedenen Erkenntniskräften alle „Arten“ stofflichen Seins erkennt, das Einzelne und Körperliche mit den Sinnen, das Allgemeine und Stofflose mit der Vernunft, so kennt der Engel mit seiner einen, rein vernünftigen Erkenntniskraft beides. Das nämlich ist in der Ordnung der Dinge enthalten, daß, was in den tiefer stehenden Kräften gespalten ist, in den höheren geeint und umfassender dasteht. So sehen wir im Menschen selber, wie der innere Gemeinsinn, der da höher steht als der einzelne äußere Sinn, obgleich er nur eine einige Fähigkeit ist, sich auf alles erstreckt, was die einzelnen äußeren fünf Sinne, jeder getrennt für sich erkennen; noch dazu aber auf manches Andere, was keiner dieser fünf Sinne erfaßt, wie z. B. auf den Unterschied zwischen dem Weißen und Süßen. Und somit gilt dies. auch vom Engel. Was immer aber der Mensch als niedrigere Erlenntniskraft erkennt, das muß auch der Engel erkennen; nur erkennt er in mehr geeinter Weise, weil er höher steht. Deshalb meint Aristoteles, es sei unzukömmlich zu sagen, Gott kenne einen Streit nicht, den wir doch kennen. (3 Metaph. I. de anima.) Die Art und Weise aber wie der Engel erkennt, kann daraus entnommen werden, daß, gleichwie die Dinge von Gott ausfließen, damit sie in ihren eigenen Naturen bestehen, so auch deshalb, damit sie in der Engelkenntnis sich finden. Von Gott aber geht offenbar nicht bloß das aus, was zur Natur eines Dinges im allgemeinen, also zur Gattungsstufe gehört, sondern auch was dieses selbe Ding zu einem einzelnen macht. Denn Er ist die Ursache des ganzen Dinges sowohl was die allgemeine Form als auch was den besonderen Stoff betrifft; und gemäß dem daß Er verursacht, erkennt Er, da sein Wissen die Ursache der Dinge bildet. Wie also Gott durch sein Wesen, kraft dessen Er alles verursacht, die Ähnlichkeit mit allem in sich enthält und vermittelst desselben somit alles kennt ebenso nach der allgemeinen Seite hin wie gemäß der besonderen einzelnen Seinsweise der Dinge; so erkennen die Engel durch die von Gott ihnen verliehenen Erkenntnisformen nicht nur das Allgemeine in den Dingen, sondern sie erkennen dieselben auch als einzelne, insoweit die einzelnen Dinge vervielfältigte Darstellungen jenes einen und einfachen Wesens sind.
c) I. Aristoteles spricht von unserer Vernunft, die eben dadurch erkennt, daß sie das Allgemeine von den Einzelheiten in Zeit und Ort loslöst. So aber erkennt nicht der Engel. II. Die Engel werden den stofflichen Dingen ähnlich; nicht als ob sie mit denselben die „Art“ oder die Gattung oder eine Eigenschaft gemeinsam hätten, sondern wie das höherstehende Sein dem niedrigeren ähnlich ist, z. B. die Sonne dem Feuer. Und nach dieser Weise ist in Gott die Ähnlichkeit mit allem, sowohl was die Form als was den Stoff betrifft, weil in Ihm alles von vornherein als in der Ursache existiert, was auch immer in den Dingen sich vorfindet. Da aber die Ideen der Engel abgeleitet sind von der Ähnlichkeit, die in Gott herrscht, so enthalten diese Ideen die Ähnlichkeit mit den Dingen; nicht nur was das Allgemeine anbelangt, die Form, sondern auch mit Rücksicht auf das jedem einzelnen Eigene und Besondere, mit Rücksicht auf den Stoff. III. Die allgemeinen Erkenntnisformen in den Engeln sind nach dem eben Gesagten die Ähnlichkeit mit der Form im stofflichen Dinge und mit dem Stoffe selber als dem Princip des Einzelnen. Und so können sie durch eine Idee viele Dinge verstehen.
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