Vierter Artikel. Die Engel erkennen nicht die Herzensgedanken.
a) Dies scheint doch der Fall zu sein. Denn: I. Gregor der Große sagt (moral. lib. 18. c. 27.): „Dann, in der glorreichen Auferstehung, wird der eine für den anderen erkennbar sein, wie er es für sich selber ist; und wird die Auffassung der Vernunft eines Jeden geschaut, so wird auch zugleich das innere Gewissen durchdrungen.“ Nun werden aber nach Matth. 28. die Seligen ähnlich den Engeln sein bei der Auferstehung. Also durchdringen und schauen die Engel die Herzensgedanken, das Gewissen der Menschen. II. Wie sich die Figur zu den Körpern verhält, so die Erkenntnisformen zum Vernunftvermögen. Wird aber der Körper gesehen, so sieht man auch dessen Figur. Also, wird die vernünftige Substanz gesehen, so sieht man auch die Erkenntnisform, d. h. den Gedanken in ihr. Da nun jeder Engel die Substanz der anderen Engel und der menschlichen Seele kennt, so folgt, daß er auch deren Gedanken kennt. III. Was in unserer Vernunft ist, das ist dem Engel ähnlicher als was in unserer Einbildungskraft ist, da in jener die Dinge als that sächlich erkannte sind, in dieser aber nur als solche, von denen die allgemeine Erkenntnisform losgelöst werden kann, also als nur dem Vermögen nach vernünftig erkennbare. Was aber in unserer Phantasie sich findet, das kennt der Engel, wie alles andere Körperliche; da ja die Phantasie ein Organ oder eine Kraft des Körpers ist. Also kennt er um so mehr unsere Gedanken in der Vernunft. Auf der anderen Seite ist es Gott allein eigen, die Herzensgedanken zu erkennen, wie es Jerem. 17, 9. heißt: „Schlecht ist des Menschen Herz und unerforschlich; wer wird es kennen? Ich, der Herr, durchforsche die Herzen.“
b) Ich antworte, daß die Herzensgedanken in doppelter Weise erkannt werden können. 1. Sie werden erkannt in ihrer Wirkung; und so werden sie nicht nur vom Engel, sondern auch vom Menschen erkannt. Und um so durchdringender ist diese Kenntnis, je verborgener an sich die Wirkung ist. Denn es wird der Gedanke eines Menschen oft erkannt nicht allein daran, was er äußerlich wirkt, sondern auch an der Veränderung des Gesichts. Die Ärzte zudem erkennen an der Art des Pulsschlages gewisse Herzenszustände, und in noch höherem Grade also die Engel oder die Dämonen. Deshalb sagt Augustin (de divnat. daemonum cap. 5.): „Bisweilen lernen die Dämonen mit Leichtigkeit die inneren Zustände des Menschen kennen, ohne daß dieselbe mit Worten offenbart worden wären, einzig und allein auf Grund der aufgefaßten Gedanken, insofern einige Zeichen im Körperlichen diese kundthun.“ Freilich sagt er in 2. Retract. c. 30.) man dürfe nicht behaupten, in welcher Weise diese Kenntnis sich vollziehe. 2. Die Gedanken können gekannt werden, insoweit sie innerhalb der Vernunft sind und ebenso die Neigungen des Herzens, soweit sie im Willen sind. So aber kann Gott allein Kenntnis von selben haben. Und davon ist der Grund, daß der vernünftige Wille Gott allein untersteht; Er allein kann im selbem der wirkende bestimmende Grund sein, der ja allein der hauptsächliche Gegenstand und der Zweck des Willens ist. (Vgl. Kap. 67, Art. 1 und Kap. 105, Art. 5.) Und deshalb ist, was vom Willen allein abhängt oder was im Willen allein sich vorfindet, nur Gott bekannt. Offenbar aber hängt es vom Willen allein ab, ob der Mensch über etwas nachdenken will; denn er kann sich seiner Erkenntnisformen bedienen und sie anwenden, wenn er wifl. Und deshalb sagt der Apostel (I. Kor. 2, 11.): „Was im Menschen ist, kennt niemand außer der Geist des Menschen, der in ihm ist.“
c) I. Den Gedanken eines Menschen kennt ein anderer Mensch nicht: einmal wegen des groben körperlichen Stoffes und dann wegen desjenigen, der in seinem Willen seine Geheimnisse einschließt. Das erste Hindernis wird in der glorreichen Auferstehung gehoben und besteht schon jetzt im Engel nicht. Das zweite Hindernis aber bleibt und steht jetzt der Erkenntnis der Engel entgegen. Jedoch wird den Grad der inneren Herrlichkeit eine gewisse Helle des Körpers offenbaren; und so wird der eine den Geist des anderen sehen. II. Der eine Engel sieht wohl die Erkenntnisformen im anderen Engel; denn die Beschaffenheit derselben entspricht dem Adel der betreffenden Substanzen. Aber er sieht nicht, wie der andere diese Formen gebraucht. III. Das tierische Begehren ist nicht frei Meister in seiner Thätigkeit und in seinem Wirken, sondern geht hervor von der Einwirkung einer anderen geschöpflichen Ursache, sei es eine stoffliche oder eine geistige. Da nun die Engel die Verhältnisse aller dieser Ursachen kennen, so vermögen sie zu durchdringen, was im Begehren und im Auffassen der sinnlichen Einbildungskraft, sei es im Menschen sei es im Tiere, vorhanden ist; insoweit nämlich beim Menschen der Akt diesem Begehren und Auffassen bisweilen folgt, wie das bei den Tieren immer geschieht. Insoweit jedoch die Auffassung und das Begehren der menschlichen Phantasie selber von der Bestimmung des vernünftigen Willens herkommt, erkennen es die Engel nicht; denn in diesem Falle nimmt der niedrigere Teil einigermaßen am Adel und an der Abgeschlossenheit des Geistes teil, wie der Gehorchende am Willen des Befehlenden. Daraus also daß der Engel das sinnliche Begehren oder die Phantasie des Menschen kennt, folgt nicht, daß er dessen Gedanken und Herzensneigungen kennt; denn der Wille und die Vernunft sind dem sinnlichen Teile nicht unterthan, sondern können denselben gebrauchen wie sie wollen.
