Vierter Artikel. Über die inneren Sinne.
a) I. Es scheint, daß kein „Gemeinsinn“ unter den inneren Sinnen angenommen werden dürfe. Denn was gemeinsam ist, steht nicht als Gattung oder Teil auf gleicher Stufe wie andere Gattungen und Teile derselben Art. Der „Gemeinsinn“ also darf nicht unter den inneren Sinnen neben den besonderen äußeren Sinnen aufgezählt werden, da er eben den letzteren „gemeinsam“ sein soll. II. Jeder der äußeren Sinne faßt auf und beurteilt den ihm eigenenGegenstand. Also bedarf es keines „gemeinsamen“ Sinnes dazu. Ähnlich scheint jeder äußere Sinn seine eigene Thätigkeit wahrnehmen zu können. Denn eine solche Thätigkeit steht in der Mitte zwischen dem Gegenstande und dem Vermögen. Sie steht also näher dem Vermögen wie der Gegenstand; wie z. B. das Sehen dem Auge näher steht als die Farbe. Wird somit der Gegenstand, die Farbe, wahrgenommen, so scheint um so eher das Nähere, das Auffassen selber, z. B. also das Sehen, wahrgenommen zu werden. III. Nach Aristoteles (de memoria et remin. I.) sind „die Phantasie und das Gedächtnis Eindrücke, die unmittelbar auf die sinnliche Seele gemacht sind“. Ein Eindruck aber, den das Subjekt empfängt, ist nicht ein Vermögen desselben. Also dürfen die Phantasie und das Gedächtnis nicht als eigene Vermögen neben dem „Gemeinsinn“ angeführt werden. IV. Die Vernunft ist weniger abhängig vom Sinne wie irgendwelches sinnliches Vermögen. Sie erkennt aber trotzdem nur dadurch, daß sie von einem äußeren Sinne empfängt; so daß nach Aristoteles: „wenn ein Sinn fehlt, auch eine Art von Wissen mangelt.“ Also noch weniger darf ein sinnliches Vermögen angenommen werden, welches Auffassungen in sich hätte, ohne daß es dieselben von einem äußeren Sinne empfange; wie dies der Instinkt oder die Schätzungskraft ist. V. Die Thätigkeit des sinnlichen Denkvermögens einerseits, welche darin besteht, zu vergleichen, zusammenzusetzen und zu trennen; und die Thätigkeit des Erinnerungsvermögens andererseits, welche darin besteht, einen gewissen Syllogismus anzuwenden, damit sie etwas untersuche, sind nicht minder fern von der Thätigkeit des Instinktes oder der Schätzungkraft und dem Gedächtnisse, wie die Thätigkeit des Instinktes von jener der Phantasie. Also müßte man ebensogut das Denkvermögen und die Erinnerung als eigene Sinneskräfte betrachten wie den Instinkt und das Gedächtnis; oder letztere dürfen nicht als eigene verschiedene von der Phantasie betrachtet werden. VI. Nugustin (12. sup. Gen. 7.) nimmt drei Arten Gesichte an: „Das körperliche, welches durch den Sinn sich vollzieht; das geistige, welches vermittelst der Einbildung oder Phantasie geschieht; das vernünftige, welches in der Vernunft abschließt.“ Also steht in der Mitte zwischen den äußeren Sinnen und der Vernunft allein die Phantasie. Auf der anderen Seite setzt Avicenna in seinem Buche de anima fünf innere Sinne an: „Den Gemeinsinn, die Phantasie, die Einbildungskraft, den Instinkt und das Gedächtnis.“
b) Ich antworte, da die Natur nicht ermangelt, das zu geben, was notwendig ist zur Erreichung des Zweckes, so müssen ebenso viele Thätigleiten im Leben der Sinne angenommen werden als es für das Leben eines vollendet sinnbegabten Wesens hinreichend ist. Und können mehrere dieser Thätigkeiten nicht auf ein Princip zurückgeführt werden, so muß man mehrere Vermögen annehmen; da ein Vermögen eben nichts anderes ist als das nächste Princip für die seelische Thätigkeit. Nun ist aber zu erwägen, daß zum Leben eines vollendet sinnbegabten Wesens erfordert wird; nicht nur, daß es ein sinnlich wahrnehmbares Ding auffaßt, wenn dieses gegenwärtig ist, sondern auch wenn es nicht gegenwärtig ist. Sonst würde, da die Bewegung und die Thätigkeit eines solchen Wesens der Auffassung entspricht, es nicht sich in Bewegung setzen können, um etwas Abwesendes zu suchen; wie dies zumal in den vollendeten Tieren erscheint, die sich von Ort zu Ort bewegen. So muß also das sinnbegabte Wesen die sinnlichen Formen nicht nur empfangen können, wenn es thatsächlich unter ihrem Einflüsse steht und von selben in seiner Thätigkeit verändert wird; sondern es muß sie, wenn das sinnlich Wahrnehmbare auch nicht mehr gegenwärtig ist, empfangen, bewahren und behalten können. Einen Eindruck aber empfangen und ihn bewahren und behalten kommt im Bereiche des Körperlichen nicht von ein und demselben Princip. Denn was weich und feucht ist nimmt einen Eindruck wohl gut auf, behält ihn aber schlecht; und das Gegenteil gilt vom Trockenen und Harten. Da also das sinnliche Vermögen die Thätigkeit eines körperlichen Organs ist, so muß ein anderes Vermögen dafür bestehen, daß die sinnlichen Eindrücke aufgenommen; und ein anderes dafür, daß sie festgehalten werden. Zudem muß noch erwogen werden, daß, wenn das sinnbegabte Wesen sich allein um des Ergötzlichen und des Abstoßenden willen, was von den äußeren Sinnen kommt, in Bewegung setzte, dann nur das Auffassen solcher Formen notwendig wäre, welche der äußere Sinn in sich aufnimmt und bei denen er Ergötzen findet oder Schmerz. So ist es aber nicht. Vielmehr ist es dem sinnbegabten Wesen notwendig, daß es nicht nur die Dinge suche oder vermeide, insofern sie den äußeren Sinnen angenehm oder unangenehm vorkommen, sondern auch insoweit sie für Anderes Nutzen oder Schaden bringen. So flieht das Schaf den Wolf, nicht weil dessen Farbe im einzelnen seinen Augen nicht gefällt, sondern als den Feind seiner Natur; und ähnlich sammelt der Vogel Strohhalme, nicht weil dies seinen Sinn ergötzt, sondern um sein Nest zu bauen. Da also dergleichen Formen der äußere Sinn nicht auffaßt, und doch für solche Auffassungen ein Princip da sein muß; so muß ein anderes Vermögen angenommen werden, verschieden von den äußeren Sinnen, das da vom Einflüsse des äußeren Wahrnehmbaren nicht verändert wird in seiner Thätigkeit. So also richtet sich auf die Auffassung der sinnlich wahrnehmbaren Formen der äußere Sinn, ein jeder mit dem ihm eigenen Gegenstande; und der Gemeinsinn, über deren Unterschied in I. und II. Zum Festhalten und Bewahren dieser Formen ist da die Einbildungskraft oder Phantasie, was ein und dasselbe ist; nämlich gleichsam eine Schatzkammer für die von den Sinnen empfangenen Formen. Auf die Auffassung jener Formen aber, welche von den äußeren Sinnen nicht ausgeht, richtet sich der Instinkt oder die Schätzungskraft. Und zur Bewahrung derselben ist da das Gedächtnis; wovon dies ein Zeichen ist, daß das Princip des Gedächtnisses in den Tieren von einer solchen Auffassung herkommt, davon nämlich, ob etwas schädlich oder zukömmlich ist. Die Natur des Vergangenen selber als solchen, worauf das Gedächtnis sich richtet, wird unter solche innere Formen gerechnet, welche der Instinkt auffaßt. Endlich ist noch zu berücksichtigen, daß nur rücksichtlich dieser beiden letztgenannten inneren Vermögen des Instinkts und des Gedächtnisses, ein Unterschied obwaltet zwischen dem sinnlichen Teile des Menschen und den Tieren. Denn die Tiere fassen diese inneren Formen, deren leitende Richtschnur das Nützliche und Schädliche, nicht das Ergötzliche und Schmerzende ist, vermittelst eines gewissen naturnotwendigen Instinkts auf; es wird deshalb hier nicht nur von einer Schätzungskraft gesprochen, sondern von einem Instinkte. Der Mensch aber faßt diese beschränkten, wenn auch inneren Formen auf, indem er das Einzelne als solches mit dem Einzelnen gewissermaßen vergleicht. Deshalb wird diese Kraft beim Menschen „Denkkraft“ genannt (vis cogitativa); eine Kraft nämlich, welche derartige Formen mit Hilfe von Vergleichen findet und sich gegenwärtig macht; die sonach nicht ganz und gar von der bloßen Natur getrieben wird. Aus diesem Grunde heißt sie auch ratio particularis, beschränktes Verstehen, denn sie richtet sich nicht auf das Allgemeine, sondern auf das Einzelne und Besondere; die Ärzte geben ihr ein gewisses Organ, an welches sie ihrer Natur nach gebunden ist und ohne welches sie nicht thätig sein kann: nämlich den mittleren Teil des Kopfes. Und ebenso hat der Mensch nicht nur ein bloßes „Gedächtnis“ in seinem sinnlichen Teile wie die Tiere, die plötzlich an Vergangenes denken; sondern anstatt dessen hat er „Erinnerung“, insoweit er in gewissermaßen syllogistischer Weise das vergangene Einzelne vergleicht. Avicenna aber setzte noch ein fünftes inneres Vermögen an zwischen der Schätzungskraft oder dem Instinkte und der Einbildung oder Phantasie. Dieses Vermögen soll dann die Formen in der Einbildung miteinander zusammensetzen und trennen; wie wir aus dem Phantasiebilde „Gold“ und dem „Berge“ ein anderes Phantasiebild „goldener Berg“ machen, das wir nie gesehen haben. Eine solche Thätigkeit aber erscheint bei den Tieren nicht; und bei dem Menschen genügt dafür die Einbildungskraft. Auch Averroës teilt in de de sensu et sensibilius diese Thätigkeit der Einbildungskraft zu. So also sind vier innere Vermögen der sinnlichen Seele eigen: Der Gemeinsinn (sensus communis), die Einbildungskraft (imaginatio, phantasia), die Schätzungskraft (vis aestimativa) und das Gedächtnis (vis memorativa).
c) I. Der innere „Gemeinsinn“ hat nicht diesen Namen, weil er die gemeinsame „Art“ wäre und so von den äußeren Sinnen ausgesagt würde; sondern weil er die gemeinsame Wurzel und das Princip der äußeren Sinne ist. II. Jeder Sinn urteilt nur über den ihm eigenen Gegenstand; so unterscheidet das Auge das Schwarze vom Weißen und urteilt darüber. Das Weiße aber vom Süßen unterscheiden, das kann weder das Auge noch die Zunge; das kann nur ein Sinn, der beides kennt. Zum „Gemeinsinn“ also gehört das Urteil über alle äußere Sinnesthätigkeit, insoweit der eine Sinn auffaßt und erkennt, was nicht der andere erkennt und beurteilt. Der „Gemeinsinn“ unterscheidet zwischen den Gegenständen eines jeden der einzelnen Sinne; und zudem nimmt er die Thätigkeit des einzelnen Sinnes selber wahr, was letzterer nicht kann. Das Auge kann nicht sehen, daß es sieht. Denn es erkennt nur die Erscheinung, von der die sinnliche Form in ihm ist und formt. Von sich selber hat es keine sichtbare Form in sich. Erst dadurch daß die sinnliche Form, das Lichtbild, im Auge ist und dieses in der Thätigkeit verändert, vollzieht sich eine andere Änderung im „Gemeinsinn“, der die Thätigkeit des Sehens wahrnimmt. Ähnlich ist es mit den anderen Sinnen. IIl. Sowie das eine Vermögen vermittelst des anderen von der Seele ausgeht, so ist auch die Seele das tragende Subjekt des einen Vermögens vermittelst des anderen. Und demgemäß wird der Phantasie- und Gedächtniseindruck von den äußeren Sinnen her benannt; und so trägt sie die sinnliche Seele, nämlich vermittelst der entsprechenden Vermögen. IV. Die Vernunfterkenntnis fängt wohl vom Sinne an; aber sie dringt viel weiter in der erkannten Sache, wie der Sinn. Dasselbe gilt, wenn auch in geringerem Maße von der Schätzungskraft, dem Instinkte. V. Im Menschen hat die an sich sinnliche und auf das Einzelne gerichtete Denkkraft und die Erinnerung eine hervorragendere Bedeutung; nicht weil diese Kräfte nicht etwa im sinnlichen Teile sind, sondern wegen der Nähe der Vernunft, durch die sie in ihrer Natur nicht geändert, aber vollkommener werden. VI. „Das geistige Gesicht“ nennt Augustin die Auffassung der Ähnlichkeiten des Körperlichen, trotzdem letzteres abwesend ist. Das also ist gemeinsam allen inneren Sinnen.
