Fünfter Artikel. Die vernünftige Seele erkennt das Stofflose in den ewigen Seinsgründen.
a) Dem scheint nicht so. Denn: I. Wodurch ich etwas erkenne, das erkenne ich zuerst und mehr. Die vernünftige Seele aber erkennt die ewigen Seinsgründe nicht während ihres irdischen Lebens, denn sie erkennt nicht das Wesen Gottes, worin selbige sind; sondern „mit Gott wird sie verbunden, wie mit etwas Unbekanntem“, wie Dionysius sagt. (I. de myst. theol.) Also erkennt sie nicht Alles in den ewigen Ideen. II. „Das Unsichtbare wird durch das erkannte Sichtbare erfaßt,“ heißt es Röm. 1. Also die ewigen Seinsgründe selber werden als etwas Unsichtbares vermittelst der Erkenntnis des Sichtbaren erkannt. III. Augustin sagt (83. Qq. 9, 46.): „Die Ideen sind die festen und dauerhaften Seinsgründe der Dinge, die da in der Vernunft Gottes existieren.“ Also muß man zur Annahme Platos zurückkehren, daß alle Wissenschaft von Ideen sich ableite, die getrennt von uns stofflos bestehen, wenn die vernünftige Seele Alles in den ewigen Ideen erkennen soll. Auf der anderen Seite sagt Augustinus (12. Conf. c. 25.): „Wenn wir beide sehen, es sei wahr, was du sagst; und wir beide sehen, es sei wahr, was ich sage; wo doch, frage ich, sehen wir dies. Du siehst es nicht in mir und ich nicht in dir, beide aber sehen wir es in der unwandelbaren Wahrheit, welche über all unsere Vernunft hervorragt.“ Die unwandelbare Wahrheit aber ist in den ewigen Seinsgründen enthalten. Also alles Wahre kennt die Seele in den ewigen Ideen.
b) Ich antworte gemäß dem, was Augustin sagt (2. de doctr. christ. 40.): „Wenn diejenigen, welche Philosophen genannt werden, etwas Wahres und unserem Glauben Angemessenes gesagt haben, so müssen wir es von ihnen als den unrechtmäßigen Besitzern wegnehmen und für uns gebrauchen. Dann hat jedoch die heidnische Philosophie andererseits auch so manches Abergläubische, was den Schein der Wahrheit trägt. Das müssen wir in jeder Weise von uns fernhalten.“ Und deshalb hat Augustin, was er Wahres in der Philosophie der Platoniker, in welcher er unterrichtet worden, fand, für die Stützung der Wahrheit in Anspruch genommen; was er aber als offenbar dem Glauben Feindliches fand, dem hat er eine bessere Seite abgewonnen. Nun hatte Plato, wie bereits bemerkt, für sich bestehende stoffliche Substanzen angenommen, welche durch Mitteilung von Sein die stofflichen Dinge hervorgebracht hätten, so aber, daß sie immer das innere Wesen des Stofflichen blieben. Das aber erscheint als dem Glauben entgegen, daß solche Substanzen, wie das „Pferd im allgemeinen“, der „Mensch an und für sich“, die „Weisheit als für sich bestehende“, das „Leben als stofflose selbständige Idee“ schaffende sind, wie Dionysius hervorhebt. (11. de div. nom.) Deshalb nahm Augustin an (83. Qq. 46.), daß alle diese Ideen in der göttlichen Vernunft als Exemplarideen der sichtbaren Dinge beständen und daß nach ihnen Alles in der Wirklichkeit geformt sei und so auch die Seele erkannte. Wenn also gefragt wird, ob die Seele in den ewigen Ideen erkenne, so hat das einen doppelten Sinn. Es kann einmal heißen, es werde Alles in diesen Ideen erkannt wie im erkannten Gegenstande; wie z. B. im Spiegel das gesehen wird, dessen Abbild darin widerstrahlt. Und so werden die Dinge in den ewigen Ideen nicht gesehen, während die Seele noch auf Erden pilgert. Dann kann es heißen, es werde alles in den ewigen Ideen gesehen, wie im Principe von allem; wie z. B. in der Sonne alles gesehen wird, was durch die Sonne sichtbar geworden ist. Und so muß die Seele Alles erkennen in den ewigen Ideen, weil diese in uns die Kenntnis verursachen. Denn unser Verstandeslicht selber ist nichts Anderes wie eine Mitteilung von seiten des ungeschaffenen Lichtes, wodurch wir letzterem ähnlich werden. Im ungeschaffenen Lichte aber sind die ewigen Seinsgründe enthalten; wie im Psalm (4, 6.) gefragt wird: „Wer zeigt uns die wahrhaften Güter?“ und darauf die Antwort kommt: „Gesiegelt ist über uns das Licht Deines Antlitzes,“ als ob er sagen wollte: Weil die Ähnlichkeit des göttlichen Lichtes uns aufgeprägt worden, deshalb wird uns Alles gezeigt. Weil aber außer dem Verstandeslichte in uns Erkenntnisformen sein müssen, die wir durch die Sinne den sichtbaren Dingen entnehmen, um von letzterem als Einzelnem Wissenschaft zu haben; deshalb haben wir nicht einzig und allein und unmittelbar vermittelst der Einwirkung des ungeschaffenen Lichtes oder der ewigen Ideen Kenntnis von stofflichen Dingen, wie dies die Platoniker annahmen; sondern kraft der einwirkenden Vernunft Gottes nehmen auch die sichtbaren Dinge teil an der Erzeugung unserer Ideen. Deshalb sagt Augustin (4. de Trin. 16.): „Denn konnten etwa die Philosophen, die da mit den zuverlässigsten Beweisen darthun, alles Zeitliche geschehe vermöge der ewigen Seinsgründe, deshalb in diesen letzteren selber erkennen oder aus ihnen schließen, wie viele Arten von Tieren existieren; wie vielgestaltet deren Samen ist! Haben sie dies Alles nicht zu erkennen gesucht, indem sie die verschiedenen Zeiten und Orte erforschten?“ Daß aber Augustin in der betreffenden Stelle durchaus nicht sagen will, wir sähen die ewigen Ideen selber und erkannten kraft dieser Erkenntnis das Sichtbare, geht aus 83. Qq. qu. 66. hervor, wo er sagt: „Nur die heiligen und reinen Seelen würden zum Schauen dieser ewigen Ideen zugelassen.“
c) Die Einwürfe sind damit beantwortet.
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