Siebenter Artikel. Die Vernunft kann nicht thatsächlich erkennen, trotzdem sie die Ideen in sich hat, wenn sie sich nicht zu den Phantasiebildern wendet.
a) Das Gegenteil erhellt aus folgenden Gründen: I. Die Vernunft wird eine thatsächlich erkennende durch die Idee, welche ihr die Form giebt. Dies aber ist dasselbe wie thatsächlich erkennen. Also ist es nicht notwendig, daß sie sich noch zu den Phantasiebildern wende. II. Die Phantasie hängt mehr von den äußeren Sinnen ab wie die Vernunft von der Phantasie. Diese aber kann thatsächlich etwas in sich einprägen, wenn auch der äußere Sinnengegenstand mangelt. Also kann auch die Vernunft thatsächlich verstehen, ohne der Phantasie zu bedürfen. III. Von den unkörperlichen Dingen giebt es keine Phantasiebilder; denn diese letzteren bleiben eingeschlossen in Zeit und Raum. Es könnte also die Vernunft nichts Unkörperliches erkennen, wenn sie einen wirklichen Erkenntnisakt nicht leisten könnte, ohne der Phantasiebilder zu bedürfen. Auf der anderen Seite sagt Aristoteles (3. de anima): „Ohne Phantasiebilder erkennt die Seele nichts.“
b) Ich antworte, daß unsere Vernunft in ihrem gegenwärtigen Zustande nichts thatsächlich erkennen kann, ohne sich zu den Phantasiebildern zu wenden. Das ergiebt sich aus zwei Anzeichen. 1. Da die Vernunft in der ihr als einem reinen Vermögen wesentlich eigentümlichen Thätigkeit eines körperlichen Organs nicht bedarf; so folgt, daß sie in ihrem thatsächlichen Verstehen in keiner Weise durch die Verletzung eines Organs gehindert würde, wenn für ihre Thätigkeit nicht vorausgesetzt wäre die Thätigkeit irgend welchen Vermögens, in dessen Natur ein körperliches Organ eintritt. In die Natur der Thätigkeit der Phantasie und überhaupt der Sinne treten nun die entsprechenden Organe ein. Also wird für die Thätigkeit der Vernunft, nicht nur wenn es gilt, Wissenschaften von neuem zu erwerben, sondern auch im Falle daß man der bereits erworbenen sich bedienen will, die Thätigkeit der Phantasie und anderer sinnlicher Kräfte vorausgesetzt. Denn wir sehen, daß, wenn wie z. B. bei den Wahnsinnigen das Organ der Phantasie verletzt ist oder wie bei den Stumpfsinnigen das Organ des sinnlichen Gedächtnisses, der Mensch auch im Gebrauche dessen gehindert wird, was er bereits gelernt hat. 2. Jeder erfährt dies an sich selbst, daß, wenn er etwas verstehen oder sich vergegenwärtigen will, er sich Phantasiebilder macht, wie etwa Beispiele, in denen er anschaut, was er sich deutlich zu machen strebt. Und daher kommt es, daß wir jemandem dadurch das Verständnis einer Wahrheit erleichtern, wenn wir ihm packende Beispiele vorlegen. Der Grund davon aber ist der, daß die Erkenntniskraft genau dem Erkenntnisgegenstande entspricht. Die Engelvernunft also, welche durchaus ihrer Substanz nach dem Stoffe fern ist, erkennt das Stoffliche vermittelst ihres eigentümlichen Gegenstandes, nämlich der vom Stoffe entfernten thatsächlich erkennbaren Substanz. Den Gegenstand der menschlichen Vernunft aber, welche naturgemäß mit dem Körper verbunden ist, bildet die Wesenheit oder die Natur, insoweit sie in körperlichem, veränderlichem Stoffe existiert; und vermittelst solcher sichtbaren Naturen steigt sie empor zur Kenntnis des Unsichtbaren. Eine derartige Natur aber schließt es in sich ein, daß sie nur als einzelne in der Wirklichkeit existiert, was ohne Stoff nicht möglich ist; es giebt z, B. keinen Stein im allgemeinen, sondern zur Natur des Steines gehört es, daß er, soll er in der Wirklichkeit existieren, dieser oder jener einzelne Stein in bestimmten Zeit- und Ortsverhältnissen ist; und dasselbe gilt vom Pferde, von der Farbe u. dgl. Also wird die Natur des Steines oder irgend welchen anderen stofflichen Gegenstandes nicht erkannt, außer insoweit sie als im einzelnen Existenz habend erkannt wird. Das Einzelne und Besondere aber erkennen wir vermittelst der Sinne und der Einbildungskraft; und sonach ist es notwendig, daß die Vernunft, damit sie das ihr eigene Objekt thatsächlich erkenne, sich zu den Phantasiebildern wendet und darin die allgemeine Natur anschaut, wie sie im einzelnen Bestand hat. Wäre aber unser Erkenntnisgegenstand das vom Stoff getrennte und so für sich bestehende Wesen, oder beständen die Wesensformen der sichtbaren Dinge getrennt vom Stoffe, wie die Platoniker das wollen; so brauchte unsere Vernunft, um thatsächlich zu erkennen, sich nicht zu den Phantasiebildern zu wenden.
c) I. Die Ideen oder allgemeinen Erkenntnisformen haben ihren Bestand in der „möglichen Vernunft“ nur dem Zustande nach, wenn kein thatsächliches Erkennen existiert. (Kap. 79, Art. 6.) Dazu also, daß wir thatsächlich verstehen, genügt nicht die Bewahrung der Ideen; sondern wir müssen uns derselben für das wirkliche Erkennen bedienen, soweit es den Dingen zukommt, deren Wesensformen sie sind; und diese Wesensformen sind Naturen, die nur als einzelne und besondere wirkliches Sein haben. II. Das Phantasiebild selber ist die Ähnlichkeit einer einzelnen Wirklichkeit. Es bedarf deshalb für selbiges nicht einer anderen besonderen Ähnlichkeit noch, wie dies für die Vernunft notwendig ist. III. Das Unkörperliche wird von uns erkannt durch das Vergleichen mit den sichtbaren Dingen; wie wir z. B. die Wahrheit erkennen aus derErwägung der Sache, rücksichtlich deren wir die Wahrheit betrachten und zu der die betreffende Wahrheit gehört. Gott betrachten wir als Ursache des Sichtbaren und insoweit Er in seinen Vollkommenheiten das Sichtbare überragt oder dieses einen Mangel an Vollkommenheit hat. Auch andere stofflose Substanzen vermögen wir nur zu erkennen dadurch, daß wir von den sichtbaren etwas entfernen oder sonst einen Vergleich zu Körperlichem finden. Wenn auch also den unkörperlichen Dingen an und für sich keine Phantasiebilder entsprechen, so haben wir behufs deren Erkenntnis dennoch notwendig, uns zu den Phantasiebildern zu wenden.
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