Sechster Artikel. Die vernünftige Kenntnis vermitteln die sichtbaren Dinge.
a) Dem entgegen schreibt: I. Augustin (83. Qq. qu. 9.): „Man muß die aufrichtige einfache Wahrheit nicht von den Sinnen her erwarten.“ Und er beweist dies: 1. daraus, daß jedes Körperliche, was der Sinn erreicht, beständigem Wechsel unterliegt; zum Auffassen des Wahren aber wird auf seiten des Gegenstandes Beharrlichkeit, Dauer erfordert; — und 2. daraus, das wir auch in Abwesenheit des Körperlichen, wie es in der Wirklichkeit besteht, die Bilder desselben in uns wahrnehmen, wie im Traume oder im Wahnsinn. Durch die Sinne jedoch können wir nicht unterscheiden, ob wir das sinnlich Wahrnehmbare wirklich oder bloß ein Bild desselben oder auch eine falsche Ähnlichkeit empfinden. Was aber vom Falschen nicht unterschieden werden kann, das wird nicht von der Vernunft aufgefaßt. Die Vernunft nun erkennt die Wahrheit. Also erhält sie selbe nicht von den Sinnen. II. 12. sup. Gen. ad litt. 16. schreibt Augustin desgleichen: „Man soll nicht meinen, das Körperliche könne in etwa auf den Geist einwirken, als ob der Geist dem auf ihn einwirkenden Körper unterstehe, wie de rStoff dem Künstler. Denn der da einwirkt steht höher wie jener, der empfängt und bestimmbar ist. Der Geist aber ist höher wie der Körper. Also, so schließt er, „macht das Bild des Körpers im Geiste nicht der Körper, sondern der Geist macht es in sich selbst.“ Nicht also von den Sinnen geht die Kenntnis der Vernunft aus. III. Die Wirkung reicht nicht weiter wie die Kraft ihrer Ursache. Wir verstehen vermittelst der Vernunft aber nicht bloß das Körperliche, sondern auch das von den Sinnen Entfernte. Also nicht die Sinne verursachen unsere Kenntnis. Auf der anderen Seite sagt Aristoteles (Poster. lib. 2.): „Unsere Kenntnis beginnt vom Sinne aus.“
b) Ich antworte; in diesem Punkte bestanden drei Meinungen bei den Philosophen. Demokrit nämlich meinte nach Augustin (ep. ad Dioscorum), es bestehe keine andere Ursache für jegliche Kenntnis auf unserer Seite als die, daß von den Körpern aus, welche Gegenstand unserer Gedanken sind, Bilder oder Ähnlichkeiten abgehen und in unsere Seele eintreten. Ebenso sagt Aristoteles, Demokrit habe gelehrt, jede Kenntnis geschehe durch Ausflüsse vom Körperlichen und durch demgemäße Abbilder desselben, (De somno et vigil. c. 2.) Der Grund dieser Meinung war, daß die Alten nicht einen Unterschied anerkannten zwischen Vernunft und Sinn; und wie sie sahen, daß der Sinn in wahrnehmbarer Weise vom Gegenstande aus für die verschiedene Thätigkeit stofflich geändert wird, so meinten sie, jede unsere Kenntnis vollziehe sich vermittelst einer von den Sinnesgegenständen ausgehenden Veränderung in den Organen. Und diese Änderung leitete Demokrit von da her ab, daß Bilder in stofflicher Weise ausflössen von den sinnlichen Dingen. Plato aber nahm an, die Vernunft sei verschieden vom Sinne; und zwar sei die Vernunft eine völlig stofflose Kraft, welche gar keines stofflichen Organs für ihre Thätigkeit bedarf. Und da Stoffloses nicht beeinflußt und verändert werden kann von Stofflichem, so hatten nach Plato die sichtbaren Dinge keinen Anteil an der Ideenbildung; sondern diese vollzog sich durch Teilnahme an stofflosen Substanzen. Auch der Sinn besaß nach ihm eine vom Stofflichen unabhängige Kraft; seine Thätigkeit stand stofflos für sich da. Nicht die sinnliche Kenntnis, da auch diese eine stofflose, geistige sei, wurde nach ihm verursacht durch die Änderung, welche der Einfluß der sichtbaren Dinge in den Organen hervorbringt; sondern infolge dieser Veränderung wird die Seele aufgeweckt, auf daß sie in sich selber unabhängig die Bilder des Sinnlichen forme. Und diese Meinung scheint Augustin zu berühren (12. de Gen. ad litt. c. 24.), wenn er sagt: „Der Körper empfindet nicht, sondern die Seele durch den Körper; sie bedient sich desselben wie eines Boten, damit sie in sich selber formt, was von außen her angekündigt wird.“ So geht nach Plato weder die sinnliche noch die vernünftige Kenntnis von den Sinnen aus, sondern die sinnlich wahrnehmbaren Dinge wecken die sinnliche Seele auf, daß sie in sich selbst empfinde; und ähnlich wecken die Sinne die vernünftige Seele, daß diese Geistiges erfasse. Aristoteles schlägt den Mittelweg ein. Er nimmt mit Plato an, daß die Vernunft vom Sinne sich unterscheide; und mit Demokrit, daß die sinnlich wahrnehmbaren Dinge nicht zwar vermittelst eines gewissen unbestimmten stofflichen Ausflusses der entsprechenden Dinge, jedoch vermittelst ihrer Thätigkeit den sinnlichen Eindruck direkt hervorbringen; denn die sinnliche Thätigkeit hat nach ihm ihren Träger in der Verbindung von Leib und Seele, nicht im Leibe allein und nicht in der Seele allein. Die Vernunft aber vollzieht nach Aristoteles ihre wesentlich vernünftige Thätigkeit ohne Teilnahme eines körperlichen Organs. Nun kann aber etwas Körperliches nicht eine Form dem Geiste einprägen. Und deshalb, damit die vernünftige Thätigkeit verursacht werde, genügt nicht der alleinige Eindruck und Einfluß des Körperlichen; sondern etwas Höheres wird dazu erfordert, da ja das Einwirkende oder Bestimmende höher steht wie das Leidende oder Bestimmbare. Dieses Höhere aber sind nicht die stofflichen Substanzen Platos, die für sich allein unmittelbar in die Vernunft hineinwirken, sondern es ist die „einwirkende“ Vernunft als Vermögen der Seele selber. Diese „einwirkende“ Vernunft löst die in der Phantasie befindlichen Bilder des Körperlichen ab vom Stofflichen und macht sie so zu thatsächlich erkennbaren. Die Phantasiebilder selber aber kommen vermittelst der Sinne von der Thätigkeit der äußeren sichtbaren Dinge. Demnach geht das Verursachen seitens der Sinne und der sichtbaren. Dinge für das vernünftige Erkennen von den Phantasiebildern aus. Da aber diese für sich allein nicht genügen, daß der Vernunft eine Erkenntnisform eingeprägt werde, sondern die Phantasiebilder selber erst durch die „einwirkende“ Vernunft als thatsächlich erkennbare hingestellt werden; so kann man nicht sagen, das Körperliche sei für sich allein die vollendete Ursache für die vernünftige Thätigkeit; vielmehr rührt vom Körperlichen gewissermaßen der bestimmbare, und erkennbar zu machende Stoff für die „einwirkende“ Vernunft her, est materia causae.
c) I. Die Wahrheit kommt also nicht in vollendeter Weise von den Sinnen, so daß wir damit unverrückbar die Wahrheit der beweglichen und veränderlichen Dinge erkennen und die Dinge von ihren Ähnlichkeiten unterscheiden; dazu bedarf es noch der „einwirkenden“ Vernunft. II. Augustin spricht von der Kenntnis, deren Sitz und Subjekt die Einbildungskraft ist. Und weil nach Plato die Einbildungstraft eine vom Stoffe durchaus getrennte, der sinnlichen Seele allein zukommende Thätigkeit hat, so benutzt dies Augustin, um zu zeigen, wie nicht die sichtbaren Dinge unmittelbar ihre Bilder in die Einbildungskraft einprägen, sondern wie dies die Seele thut. Aristoteles beweist aus demselben Grunde, weil nämlich das Wirkende höher im Sein steht als das entsprechende Leidende und Empfangende (3. de anima), die Existenz einer „einwirkenden“ Vernunft als eines Seelenvermögens. Ohne Zweifel müßte jedoch dann nach Augustin in der Einbildungskraft ebenfalls nicht allein ein empfangendes, bestimmbares Vermögen sein, das die von außen kommenden Bilder aufnimmt, sondern auch ein entsprechend einwirkendes, das die Bilder in die Einbildungskraft einprägt. Nach Aristoteles aber besteht da keine Schwierigkeit. Denn der sinnlich wahrnehmbare Körper steht höher im Sein wie das einfache sinnliche Organ; wie z. B. das Farbige, was thatsächlich die Farbe hat, höher und edler ist in dieser Beziehung als die Pupille, die nur Vermögen hat für die Farbe. Somit kann, wenn die Verbindung von Leib und Seele das Subjekt der sinnlichen Thätigkeit ist, unmittelbar der Körper das sinnliche Bild einprägen in die Einbildungskraft. Trotzdem könnte noch gesagt werden, daß wohl das erste Einprägen des Phantasiebildes vom sichtbaren Gegenstande unmittelbar herkommt; daß aber dann die eigene Thätigkeit der Seele die entsprechenden Bilder miteinander verbindet oder voneinander trennt; und so hätte die Stelle aus Augustin ebenfalls Wahrheit, denn das Ergebnis dieser Verbindung und Trennung käme nicht unmittelbar von dem sinnlich Wahrnehmbaren. III. Die Kenntnis der Sinne ist nicht die volle Ursache der vernünftigen Thätigkeit; und letztere kann sich somit weiter erstrecken als die Kenntnis der Sinne.
