Kapitel 16: Der vernunftlose Seelenteil, der auch „leidend" heißt
Manche behaupten: die Vernunftlosigkeit besteht für sich gleichsam als eine vernunftlose Seele; sie ist kein Teil der vernünftigen Seele; der erste Grund ist der: auch die Vernunftlosigkeit an sich wird bei den vernunftlosen Tieren gefunden; daraus folgt klar: sie ist gewissermaßen vollkommen und kein Teil einer anderen Seele; der andere Grund ist der: es wäre mit das törichtste, wenn die Vernunftlosigkeit ein Teil der vernünftigen Seele wäre. Aristoteles hingegen bezeichnet die Vernunftlosigkeit sowohl als Teil wie als Vermögen und zerlegt sie in zwei Teile, wie wir schon bemerkten; er nennt sie mit gemeinsamem Namen auch Begehrungsvermögen; dazu gehört noch die triebhafte Bewegung. Das Begehren ist die Grundlage der Bewegung. So stürmen z. B. die Tiere, wenn in ihnen das Begehren erwacht ist, zur triebhaften Bewegung. Der eine Teil der Vernunftlosigkeit gehorcht nicht der Vernunft, der andere dagegen ist der Vernunft gefügig. Der vernunftgehorsame Teil der Vernunftlosigkeit S. 64 zerfällt wieder in zwei Glieder: in die Begierde und in den Zorn. Als Organe dienen für die Begierde, die durch Sinnesempfindung entsteht, die Leber, für den Zorn das Herz; dies ist ein harter Körperteil, der kraftvolle Bewegung aufnimmt und der zu harter Arbeit wie zu straffem Trieb bestimmt ist; so ist andrerseits die Leber als zarte Eingeweide zum Organ der weichen Begierde geschaffen. Diese Teile heißen vernunftgehorsam, denn sie gehorchen von Natur aus der Vernunft, sie sind ihr untergeordnet und bewegen sich auf jede Weise, wie es die Vernunft gebietet, bei den Menschen, die naturgemäß leben. Ferner bestimmen die Leidenschaften dieser Teile die Wesenheit des Menschen; ohne Leidenschaften ist ja das Leben nicht möglich. Weil jedoch das Wort „Leidenschaft" gleichbedeutend für verschiedene Begriffe steht, so ist zuvor die gleiche Bezeichnung zu unterscheiden. „Leidenschaft" heißt so die körperliche Leidenschaft, z. B. die Krankheiten und die Wunden. „Leidenschaft" heißt auch die seelische, von der jetzt die Rede ist; die Begierde und der Zorn. Dem Namen und dem Begriffe nach allgemein ist die Leidenschaft des Menschen, die Freude oder Trauer im Gefolge hat. Der Leidenschaft folgt Trauer, die Leidenschaft selbst ist keine Trauer. Träfe das zu, so litte jedes Wesen Schmerzen, das von Leidenschaft ergriffen ist. Nun sind zwar die unempfindlichen Wesen von Leidenschaft erfaßt, aber sie fühlen keinen Schmerz. Demnach ist nicht die Leidenschaft, sondern die Empfindung der Leidenschaft ein Schmerz. Diese Leidenschaft muß zudem bedeutend sein, um sinnlich empfunden zu werden.
Die Begriffsbestimmung der seelischen Leidenschaften heißt folgendermaßen: „Der Affekt ist eine sinnlich wahrnehmbare Bewegung des Begehrungsvermögens auf Grund der Vorstellung eines Gutes oder eines Uebels". Die Begriffserklärung hat noch eine andere Fassung: „Der Affekt ist eine vernunftlose Bewegung der Seele wegen der Vorstellung eines Gutes oder eines Uebels". Im allgemeinen erklärt man den Affekt folgendermaßen: „Der Affekt ist die ßewegung aus einem Zustand in einen andern". Tätigkeit ist eine Bewegung, die naturgemäß handelt; als handelnd wird das bezeichnet, was sich aus sich bewegt. So ist demnach auch der Zorn eine Tätigkeit des Zornvermögens. Der Affekt der beiden Seelenteile erstreckt sich auch auf unsern ganzen Körper, wenn er vom Zorn gewaltsam zu den Handlungen getrieben wird. Aus einem Zustand ist die Bewegung in einen andern umgeschlagen, ein Vorgang, den wir Affekt nannten. Noch auf andere Art nennt man die Tätigkeit Affekt, wenn sie naturwidrig ist. Tätigkeit ist eine naturgemäße, Affekt eine naturwidrige Bewegung. Unter diesem Gesichtspunkt heißt also das Wirken im Falle naturwidriger Bewegung Affekt, ob es nun von selbst oder von einer anderen Ursache bewegt wird. Die regelmäßige Pulsbewegung des Herzens (der gewöhnliche Herzschlag) ist Wirken, die heftige S. 65 Pulsbewegung (das Herzklopfen) dagegen ist Leiden. Vom Herzen kommt die heftige Pulsbewegung (das Herzklopfen), aber die ist nicht naturgemäß; von ihm leitet sich ebenso die regelmäßige Pulsbewegung (der gewöhnliche Herzschlag) her, diese ist jedoch naturgemäß. Daher ist es gar nicht verwunderlich, wenn ein und derselbe Vorgang mit Leiden und Wirken benannt wird. Insofern Bewegungen unmittelbar aus dem leidenden Teile der Seele entspringen, sind es gewisse Tätigkeiten; insofern Bewegungen maßlos und naturwidrig sind, stellen sie nicht Tätigkeiten, sondern Leiden dar. So ist mithin die Bewegung des vernunftlosen Seelenteils „Leiden" in beiden Bedeutungen. Nicht jede Bewegung des leidenden Seelenteils heißt „Leiden", sondern nur die heftigeren Bewegungen und solche, die bis in die Sinnesempfindung vordringen. Denn die kleinen Bewegungen, die sich nicht wahrnehmen lassen, sind noch keine Affekte. Der Affekt muß auch eine bemerkenswerte Größe haben. Deswegen hat die Begriffserklärung des Affektes noch den Zusatz erhalten: sinnlich wahrnehmbare Bewegung. Die kleinen Bewegungen, die der Sinnesempfindung verborgen bleiben, rufen, wie bereits erwähnt ist, doch keinen Affekt hervor.
