Kapitel 32: Die freiwillige Handlung
Die unfreiwillige Handlung ist zweifach: die eine geschieht aus Unwissenheit, die andere geschieht mit Gewalt. Beiden Arten steht die freiwillige Handlung gegenüber. Sie geschieht nicht mit Gewalt, auch nicht aus Unwissenheit. Nicht mit Gewalt geschieht die Handlung, deren Anlaß in dem Menschen ruht. Sie geschieht nicht aus Unwissenheit, wenn keiner der Einzelumstände unbekannt ist, durch die und in denen die Handlung ausgeführt wird. Haben wir beide Arten der unfreiwilligen Handlung zusammengestellt, so erklären wir die freiwillige Handlung derart: sie ist eine Handlung, deren Anlaß in dem Menschen selbst ruht; dieser kennt eben die Einzelumstände, in denen sich die Handlung vollzieht. Es wird untersucht, ob die natürlichen Vorgänge freiwillige Handlungen sind; z. B. die Verdauung und das Wachsen. Es erweist sich, daß diese keine freiwilligen und keine unfreiwilligen Handlungen sind. Die freiwillige wie die unfreiwillige Handlung liegt in unsrer Macht. Die Verdauung und das Wachsen hingegen stehen nicht in unsrer Macht. Wenn uns auch die Einzelumstände nicht unbekannt sind, so sind sie S. 87 deswegen, weil sie nicht in unsrer Macht liegen, doch keine freiwilligen und unfreiwilligen Handlungen. Die Taten, die in Zorn und Begierde geschehen, wurden als freiwillig nachgewiesen; vollzieht man sie in richtigem Maß, so finden sie Lob; werden sie jedoch fehlerhaft ausgeführt, so erfahren sie Tadel oder Haß. Lust und Betrübnis folgen diesen Handlungen, ihr Anlaß ruht in den Menschen selbst. Lag es doch eben bei den Menschen, sich nicht leicht von den Leidenschaften fangen zu lassen; solche Leidenschaften werden ja durch die guten Sitten in die richtige Bahn gelenkt.
Außerdem tut keins der vernunftlosen Tiere, aber auch die kleinen Kinder nicht, etwas freiwillig, wenn diese Handlungen (des Zornes und der Begierde) unfreiwillig sind. Jetzt liegt die Sache freilich nicht so. Wir sehen doch die Tiere freiwillig auf ihre Nahrung zueilen, nicht aus Zwang (sie bewegen sich durch sich selbst), auch nicht aus Unwissenheit; denn sie kennen ihre Nahrung. Haben sie dann ihre Nahrung erblickt, so sind sie froh und eilen gleichsam auf einen bekannten Gegenstand hin; verfehlen sie ihre Nahrung, dann sind sie betrübt. Als Erkennungszeichen der freiwilligen Handlung, die ihr Ziel erreicht, dient die Lust, der Handlung, die ihr Ziel verfehlt, die Betrübnis. Daraus ersieht man deutlich: die Begierde und der Zorn enthalten eine freiwillige Handlung; der Zorn äußert sich ja in Verbindung mit Lust. Wenn man ferner die Handlungen, die aus Zorn und aus Begierde geschehen, nicht als freiwillig bezeichnet, dann hebt man die sittlichen Tugenden auf. Eben diese stehen in der Mitte zwischen den Leidenschaften. Sind die Leidenschaften unfreiwillig, so sind auch die Handlungen der Tugenden unfreiwillig. Denn man übt sie mit Leidenschaft aus. Aber niemand nennt die Handlung unfreiwillig, die mit Vernunft, Vorsatzlichkeit, aus eigenem Antrieb und Begehren im Verein mit der Kenntnis der Einzelumstände geschieht. Zudem wurde in den Menschen selbst der Anlaß der Handlungen nachgewiesen. Mithin sind sie freiwillig. Da wir an zahlreichen Stellen die Vorsätzlichkeit und das, was in unsrer Macht liegt, erwähnt haben, müssen wir auch von der Vorsätzlichkeit eingehend handeln.
