Kapitel 44: Worauf sich die Vorsehung erstreckt
Wir haben dargelegt: es gibt eine Vorsehung: ferner haben wir ihr Wesen beschrieben. Es bleibt noch übrig mitzuteilen, worauf sich die Vorsehung erstreckt: ob auf die allgemeinen oder auf die einzelnen Verhältnisse oder auf die allgemeinen und die einzelnen Verhältnisse zusammen. Platon ist dieser Meinung: die Vorsehung leitet die allgemeinen und die einzelnen Verhältnisse; dabei teilt er den Begriff der Vorsehung in drei Glieder. Die erste Vorsehung ist die des ersten Gottes; dieser sorgt vornehmlich für die Urbilder (Ideen), hierauf für die gesamte Welt im allgemeinen, z. B. für den Himmel, die Sterne und für alle allgemeinen Begriffe, das heißt: für die Gattungen, Wesenheit, Größe, Beschaffenheit sowie für die übrigen gleichmütigen und ihnen untergeordneten Arten. Die Götter zweiter Ordnung, die den Himmel umdrehen, sorgen für die Entstehung S. 112 der wertlosen Tiere, Pflanzen und für alle Dinge, die entstehen und vergehen. Aristoteles schreibt die Entstehung dieser Wesen der Sonne und dem Tierkreis zu. Die dritte Vorsehung hat nach Platon diese Aufgabe: sie ist die Leiterin und das Ziel der Handlungen, sie ist die Ordnung der Lebensverhältnisse, der natürlichen, der stofflichen und der sogenannten organischen Güter sowie der ihnen entgegengesetzten Dinge. Platon nimmt an: über dieser dritten Vorsehung stehen einige Geister, die über die Erde als Wächter der menschlichen Handlungen aufgestellt sind; die zweite und die dritte Vorsehung geht von der ersten aus; daher lenkt der erste Gott alles mit seiner Macht; der erste Gott hat die Götter der zweiten und dritten Ordnung als Fürsorger aufgestellt. Es ist lobenswert, wenn Platon alles auf Gott zurück führt und erklärt: die ganze Vorsehung hängt vom Willen Gottes ab; dagegen verdient es kein Lob mehr, wenn Platon auch die Wesen, die den Himmel umdrehen, als die zweite Vorsehung bezeichnet. Das Ding, das entsteht, ist ja nicht Vorsehung, sondern Schicksal und Notwendigkeit. Welche Form auch immer jene Geister in ihrer Zusammensetzung haben, so müssen doch die Dinge geschaffen werden, anders können diese nicht entstehen. Es ist schon längst gezeigt worden: von den Dingen, die der Vorsehung unterworfen sind, fällt keins unter die Gewalt der Notwendigkeit. Die Philosophen der Stoa achten das Schicksal und das, was in unsrer Macht liegt, hoch, aber der Vorsehung überlassen sie auch nicht einen einzigen Platz; vielmehr heben sie in Wahrheit auch das auf, was in unsrer Macht liegt; so wurde es bereits früher nächgewiesen. Demokrit, Heraklit und Epikur vertreten die Ansicht: es gibt keine Vorsehung für die allgemeinen und keine für die besondren Verhältnisse. Epikur äußerte sich z. B. so: „Das Glückselige und Unvergängliche enthält selbst keine Schwierigkeiten und bietet sie auch keinem andern. Daher läßt es sich nicht durch Zornausbrüche und nicht durch Schmeichelworte fesseln. Alle derartigen Erscheinungen finden sich nur an einer schwachen Natur. Der Zorn ist den Göttern etwas Fremdes. Er entsteht nur auf Grund einer Sache, die man nicht gewollt hat. Bei Gott geschieht jedoch nichts, was er nicht gewollt hat." Diese Philosophen (Demokrit, Heraklit und Epikur) folgen somit ihren eignen Grundanschauungen. Sie glauben: dieses Weltall ist von selbst entstanden; dann behaupten sie mit Recht: alle Dinge bestehen, ohne Vorsehung. Wer kann denn für die Dinge Fürsorger sein, zu denen es keinen Schöpfer gibt? Es ist doch klar: die Dinge müssen sich von selbst bewegen, die im Anfang von selbst entstanden sind. Folglich muß man dem ersten Lehrsatz dieser Philosophen entgegentreten. Ist dieser aufgehoben, so werden die Ausführungen von früher zum Beweis genügen: es gibt eine Vorsehung. Wir haben also zur passenden Zeit die Widerlegung dieser Philosophen ausgeführt, so wollen wir uns denn der S. 113 Ansicht des Aristoteles und der andren Denker zuwenden, die lehren: die eigenen Dinge unterliegen nicht der Vorsehung.
Aristoteles z. B. ist der Meinung: die Natur lenkt für uns die einzelnen Dinge; so wies er versteckt im sechsten Buch der Nikomachischen Ethik darauf hin; diese Natur ist göttlich, sie liegt in allen erschaffenen Dingen zugrunde, sie legt jedem einzelnen Wesen von Natur aus nahe, die nützlichen Dinge zu wählen und vor den schädlichen zu fliehen. Wie bereits gesagt: jedes einzelne Lebewesen wählt sich die ihm entsprechende Nahrung aus, es geht mit Eifer dem Nützlichen nach, es kennt von Natur aus die Heilmittel der Leiden. Euripides und Menander sprechen es an einigen Stellen aus: der Verstand in jedem einzelnen Wesen sorgt für jedes einzelne Ding voraus; das bringt kein Gott fertig. Allerdings zeigt sich der Verstand nur bei den Dingen, die in unsrer Macht liegen: bei den ausführbaren Handlungen und den Gewerben oder bei der wissenschaftlichen Betrachtung. Die Vorsehung dagegen zeigt sich bei den Dingen, die nicht in unsrer Macht liegen, z. B. dabei, ob man reich und nicht reich, ob man gesund und nicht gesund ist; das sind Dinge, von denen der Verstand, aber auch die Natur nichts hervorbringen kann: so lehrt offenbar Aristoteles. Die Werke der Natur sind doch recht deutlich erkennbar. Was hat das aber mit dem Verstand oder mit der Natur zu tun: der Mörder erleidet bald seine Strafe, bald entzieht er sich ihr? — es sei denn, daß man erklärt: die Tätigkeit des Verstandes und der Natur gehört zur Vorsehung, die weitere Folge aus ihnen gehört zum Schicksal, dann ist das aufgehoben, was in unsrer Macht liegt. Doch verhält es sich nicht so. Wurde doch das gezeigt: die Teile des Verstandes: der praktische Verstand und die theoretische Vernunft liegen in unsrer Macht. Nicht alles, was durch die Vorsehung geschieht, gehört zur Natur, wenn auch die Werke nach der Vorsehung geschehen. Denn viele Dinge, die nach der Vorsehung geschehen, sind keine Werke der Natur, wie das beim Mörder gezeigt wurde. Die Natur ist ja gewiß ein Teil der Vorsehung, nicht die Vorsehung selbst.
Diese Philosophen (Demokrit, Heraklit und Epikur) schreiben demnach der Natur und dem Verstand die Fürsorge für die einzelnen Dinge zu. Die andren Denker stellen die Behauptung auf: Gott kümmert sich um den Dauerbestand der Dinge, sodaß kein Ding der Schöpfung zugrunde geht; nur dafür trifft Gott Fürsorge; die einzelnen Dinge werden, wie es der Zufall will, hin- und hergeworfen; daher gibt es viele Uebeltaten, viele Morde; um es kürz zu sagen: jede Art von Schlechtigkeit findet bei den Menschen Unterkunft; einige Menschen entrinnen der Strafe; denn solche Verhältnisse gibt es überhaupt nicht, wo es nach dem rechten Maß und nach den Gesetzen hergeht. Wo kein Gesetz und keine Vernunft herrscht, wie kann man da sagen: Gott ist das Wesen, S. 114 das mit Fürsorge waltet? Es kommt vor, daß die trefflichen Menschen in den meisten Fällen Unbilden erleiden, gedemütigt und von ungezählten Plackereien heimgesucht werden; dagegen gewinnen die Schlechten und Gewalttätigen an Macht, Reichtum, Ehrenstellen und den übrigen Lebensgütern. Ich habe den Eindruck: die Denker, die das behaupten, kennen viele andre Lehrsätze über die Vorsehung nicht, vor allem nicht die Unsterblichkeit der Seele. Weil sie diese für sterblich halten, schließen sie die Verhältnisse der Mensehen mit diesem Leben ab. Außerdem sind die Urteile, die sie über die Lebensgüter haben, verzerrt und falsch. Sie glauben z. B.: die Menschen sind glücklich und selig, die mit Reichtum überhäuft sind, sich stolz in Würdenämtern zeigen und mit den übrigen irdischen Gütern prunken. Die Güter der Seele indes achten sie für nichts, die doch in beträchtlichem Maße die Güter des Leibes und die äußeren Güter überragen. Die Güter der besseren Menschen sind besser. Daher übertreffen die Tugenden den Reichtum, die Gesundheit und die andren Güter so sehr wie die Seele den Körper. Darum machen die Tugenden sowohl allein wie mit den andren Gütern zusammen den Menschen glückselig; und zwar zusammen mit den andren Gütern dehnen sie die Glückseligkeit in die Breite aus, dagegen allein und nur in ihrem eigenen Bereich äußern sich die Tugenden in begrenztem Maß. Die Dinge denkt man sich eben teils durch eine Begrenzung ausgedrückt, z. B. ein Stück von zwei Ellen Länge, teils in die Breite gedehnt, z. B. zeigt das ein Haufen. Nimmt man von einem Haufen zwei Scheffel weg, so bleibt der Rest noch ein Haufen. Nimmt man der breitausgedehnten Glückseligkeit die Güter des Leibes und die äußeren Güter fort und läßt man nur die Tugenden übrig, dann bleibt auch so noch die Glückseligkeit bestehen. Die Tugend an sich reicht zur Glückseligkeit aus. Somit ist jeder Gute glückselig, jeder Schlechte ist unglücklieh, selbst wenn er alle genannten Glücksgüter im Ueberfluß besäße. Eben das wissen die meisten Leute nicht, sie glauben vielmehr: nur die sind glückselig, die über einen schönen Leib und die über Reichtümer verfügen. Deswegen tadeln sie die Vorsehung, denn sie leitet unsere Verhältnisse nicht allein auf Grund der sichtbaren Gegenstände, sondern auch nach ihrer eigenen Vorkenntnis. Denn Gott weiß: für den Menschen, der jetzt trefflich und gut ist, ist die Armut von Nutzen; er weiß ferner: wenn der Reichtum hinzukommt, so verdirbt dieser die Gesinnung des trefflichen Menschen; daher behält Gott ihn mit Nutzen in der Armut. Gott weiß andrerseits: oft wird sich der Reiche widerwärtiger zeigen, wenn er an Geld Mangel zu leiden hat — er würde sich zu Raubüberfällen, Mordanschlägen oder zu andren, noch größeren Verbrechen entschließen —; darum läßt ihn Gott den Reichtum genießen. Deshalb war die Armut häufig für uns dazu von Nutzen, wenn wir Kinder beerdigten und auf Diener S. 115 verzichteten. Ihre Erhaltung am Leben wäre bittrer als ihr Sterben gewesen, wenn die Kinder schlecht und die Diener zu Räubern geworden wären. Wenn wir, ohne etwas von den Dingen der Zukunft zu wissen, nur auf die Gegenwart hinblicken, so beurteilen wir die Vorgänge im Leben nicht richtig. Aber für Gott ist auch die Zukunft gleichsam Gegenwart.
Allerdings haben wir diese Ausführungen gegen die Leugner der Vorsehung gemacht; gegen diese wird man passend auch das Wort der Schrift anwenden: „Wird der Schmutz zum Töpfer sprechen?" und so weiter. Warum soll man nicht einen solchen Menschen tadeln, der einen Gesetzesantrag gegen Gott einbringt und gegen die Werke der Vorsehung zum Widerstand aufreizt, während derselbe Mensch nicht den Mut hat, den Gesetzverordnungen seiner Mitmenschen zu widersprechen? Wir übergehen die Verirrungen solcher Art, vielmehr diese Gottlosigkeiten; wir wollen nun zeigen: die Denker haben Unrecht mit ihrer Behauptung: nicht die einzelnen Dinge unterliegen der Vorsehung, sondern nur die allgemeinen und übergeordneten Verhältnisse sind von der Vorsehung abhängig. Man kann wohl nur folgende drei Gründe dafür nennen, daß es keine Vorsehung für die einzelnen Dinge gibt: man weiß nicht, daß Gott edel ist und sich um die einzelnen Dinge kümmert; ferner: man will oder endlich man kann Gott nicht erkennen. Aber Unkenntnis und Unwissenheit sind dem glückseligen Wesen in jeder Beziehung durchaus fremd. Erkenntnis, Weisheit und Wissenschaft ist dasselbe. Warum sollte das gerade vor Gott verborgen bleiben, was auch ein Mensch mit richtigem Denkvermögen weiß: wenn alle einzelnen Dinge vernichtet werden, so werden auch die allgemeinen Dinge zugrunde gehen? Denn aus sämtlichen einzelnen Dingen setzen sich die allgemeinen Dinge zusammen. Die Arten gleichen sich also zugleich allen einzelnen Dingen an, sie nehmen wieder rückwärts aufeinander Bezug, sie gehen zusammen zugrunde und bleiben Zusammen bestehen. Nichts hindert den Untergang aller Atome, wenn sie auch nicht eine einzige Fürsorge vom Himmel erhalten. Gehen diese Atome zugrunde, so werden auch die allgemeinen Dinge vernichtet werden. Wenn diese Denker versichern: Gott sorgt nur für dies eine, daß nicht alle einzelnen Dinge untergehen zum Zweck der Erhaltung der Arten — so gestehen sie damit, ohne selbst davon Kenntnis zu haben: es gibt auch für die einzelnen Dinge eine Vorsehung. Sorgt Gott für diese einzelnen Dinge — wie die Denker selbst einräumen — dann bewahrt er die Arten und die Gattungen. Dagegen wenden andre ein: Gott kennt zwar die einzelnen Dinge, doch will er nicht für sie sorgen. Daß Gott nicht will, geschieht unter zwei Vorwänden: entweder aus Leichtsinn oder deshalb, weil es unschicklich ist. Wer will ohne Anfall von Wahnsinn Gott Leichtsinn vorwerfen? Ferner: Leichtsinn wird doch von diesen beiden Zuständen S. 116 erzeugt: von Freude und von Furcht. Wir zeigen uns leichtsinnig, wenn wir von einer Freude hingerissen werden; oder wir lassen aus Furcht vom Handeln ab. Doch darf man keinen dieser beiden Zustände (Freude und Furcht) von Gott denken. Vermeiden es diese Denker, Gott Leichtsinn vorzuwerfen, sagen sie dafür: es schickt sich nicht für Gott (für die einzelnen Dinge zu sorgen) — denn es ist für die Glückseligkeit von solcher Art unwürdig, sich zu den gewöhnlichen und kleinen Dingen herabzulassen, durch die irdischen und vorsätzlichen Verirrungen gleichsam beschmutzt zu sein und daher keine Fürsorge üben zu wollen — dann wissen sie nicht, daß sie Gott die zwei schlechtesten Eigenschaften (Leidenschaften) anhängen: Hochmut und Befleckung. Entweder aus Hochmut verachtet der Schöpfer die Herrschaft und Leitung der einzelnen Dinge — eine ganz alberne Bemerkung; oder er weicht der Befleckung aus, wie die Denker selbst erklären. Nun besitzen die Sonnenstrahlen die Natur, jede Feuchtigkeit anzuziehen; wenn sie da sagen: die Sonne und ihre Strahlen beflecken sich nicht, wenn sie ihr Licht auf die Kehrichthaufen werfen, sie bleiben vielmehr unbefleckt und rein — wie glauben sie dann noch: Gott ist durch die menschlichen Handlungen beschmutzt, die hier auf Erden geschehen?
Das sind nicht die Lehrsätze von Menschen, die die Natur Gottes kennen. Die Gottheit ist unantastbar, unzerstörbar, unbefleckbar und jeder Veränderung überlegen. Die Befleckung und alle derartigen Dinge sind Werke der Aenderung. Ein Künstler welcher Kunst auch immer, besonders ein Arzt, kümmert sich um die allgemeinen Dinge, er läßt nichts von den einzelnen Dingen, auch nicht das kleinste davon, unversucht und unbesehen beiseite, weil er weiß: der Teil trägt etwas zu dem Ganzen bei. Wie? ist das nicht ganz töricht, Gott, den Schöpfer, sogar noch ungelehrter als die Künstler zu bezeichnen? Allerdings: Gott will, aber er kann nicht. Wie? Zeigt es sich nicht deutlich auf der andren Seite als albern, Gott schwach und machtlos zu edlem Tun zu nennen? Im übrigen kann man es auf zwei Arten erklären: Gott vermag nicht für die Atome zu sorgen: erstens weil er selbst nicht die Natur dazu besitzt, oder zweitens weil die einzelnen Dinge nicht fähig sind, die Vorsehung auf sich wirken zu lassen. Daß aber Gott die Natur zum Sorgen besitzt, geben diese Denker sogar selber einstimmig dadurch zu, daß sie sagen: er sorgt für die allgemeinen Dinge; sonst könnten ja die schwächeren Wesen nicht zu den höheren Stufen gelangen; die Kraft der stärkeren Wesen dringt jedoch bis zu den letzten und empfindungslosen Teilen vor und erhält sie alle lebendig. Alle Dinge hängen vom göttlichen Willen ab, von dorther schöpfen sie ihren dauernden Bestand und ihr Wohlergehen. Auch die Grundlage der Atome und der vervielfachten Dinge ist zur Aufnahme der Vorsehung fähig: das sieht man deutlich an den Tieren, S. 117 die sich durch Befehle und führende Wesen leiten lassen; von diesen Tieren gibt es viele Arten. So sind z. B. Bienen, Ameisen und die meisten Tiere, die sich zu Scharen sammeln, unter einige Führer gestellt, denen sie gehorsam folgen. Vorzüglich kann man das feststellen, wenn man auf die Staatsverfassung der Menschen hinsieht.
Die Staatsverfassung ist offensichtlich für die Sorgen und Verwaltungsmaßregeln ihrer Gesetzgeber und ihrer Vorsteher empfänglich. Ist die Verfassung für diese Handlungen aufnahmefähig, warum sollte sie dann nicht für die Vorsehung des Schöpfers empfänglich sein? Ein kräftiger Beweis dafür, daß auch die einzelnen Dinge von der Vorsehung abhängen, liegt in der Tatsache: die Erkenntnis der Vorsehung ist den Menschen von Natur eingepflanzt. Vom Zwang gefesselt, eilen wir sofort zur Gottheit, wir nehmen unsre Zuflucht zu den Gebeten, gleich als führe uns die Natur ohne Belehrung zu Gottes Hilfe. Doch könnte uns die Belehrung nicht zu dem hinführen, was nicht Natur werden kann. In den plötzlichen Verwirrungen und Furchtanfällen z. B. rufen wir ohne Wahl und ohne vorher eine Prüfung anzustellen, Gott an. Jedes Ding, das von Natur jedem beliebigen andren Dinge folgt, enthält einen kräftigen Beweis und läßt auch nicht eine einzige Widerlegung zu. Woher kamen die Denker mit diesen Lehrsätzen zu dieser Auffassung? Zunächst glaubten sie: die Seele geht zugleich mit dem Leib zugrunde. Zweitens vermochten sie keinen Grund für die Vorsehung der einzelnen Dinge ausfindig zu machen. Aber: die Seele ist nicht sterblich, die Verhältnisse der Menschen werden nicht durch dieses Leben begrenzt; das offenbaren die Seelenwanderungen, woran die gelehrtesten Griechen glauben; das offenbaren auch die Oerter, die, wie man sagt, den Seelen je nach ihrem Lebenswandel zugewiesen sind; endlich offenbaren das die Strafen der Seelen, die sie an sich selbst erleiden. Diese Tatsachen mögen in einem andren Punkt nicht das richtige treffen, aber darin stimmen sie doch überein: die Seele besteht noch nach diesem Leben, sie erträgt Strafen für ihr Vergehen. Können wir uns keinen Begriff von der Vorsehung der einzelnen Dinge machen, wie es denn auch wirklich der Fall ist gemäß dem Satze: „Wie unmöglich ist es doch, deine Urteile aufzuspüren und deine Wege zu entdecken!" — so dürfen wir darum doch nicht sagen: es gibt keine Vorsehung. Kennen wir z. B. auch nicht das Größenmaß des Meeres und nicht die Zahl der Menschen und der andren Lebewesen. Die Atome sind für uns unbegrenzt; die unbegrenzten Dinge sind für uns auch unbekannt. Die allgemeinen Dinge werden häufig von der Vernunft begriffen; dagegen lassen sich die einzelnen Dinge unmöglich so erfassen.
Bei jedem einzelnen Menschen gibt es einen zweifachen Unterschied: erstens einen Unterschied gegenüber einem andren Menschen, S. 118 zweitens einen Unterschied gegenüber sich selbst; denn der Mensch ändert und unterscheidet sich gegenüber sich selbst jeden Tag beträchtlich in seinem Lebenswandel, in seinen Beschäftigungen, Bedürfnissen, Begierden und in den zufälligen Umständen; schnell wandelt sich dieser Mensch, rasch ändert er sich zugleich mit seinen Bedürfnissen und den Gelegenheiten; daher muß auch die zu jedem einzelnen Menschen passende Vorsehung verschieden, abwechslungsreich, vielgestaltig und im Einklang mit der Unfassbarkeit der vervielfachten Dinge sich zugleich ausbreiten; wenn ferner für den einzelnen Menschen zu jeder Angelegenheit eine entsprechende und besondere Vorsehung dasein muß und da der Unterschied zwischen den einzelnen Dingen unbegrenzt ist, so ist folglich auch der Begriff der Vorsehung unbegrenzt, die für diese einzelnen Dinge passt; ist der Begriff unbegrenzt, dann ist er für uns auch unerkennbar. Daher darf unser eignes Nichtwissen keineswegs die Fürsorge für die einzelnen Dinge aufheben. Die Dinge, von denen du beispielsweise annimmst: sie befinden sich nicht in der richtigen Ordnung, entwickeln sich plangemäß durch den Schöpfer; aber weil du die Ursachen nicht kennst, so leugnest du die plangemäße Entwicklung der Dinge. Was wir noch bei den andern uns unbekannten Dingen noch erleben, das widerfährt uns auch bei den Werken der Vorsehung. Aus einer Vermutung, dazu noch aus einer dunklen, schließen wir auf Eigenschaften der Vorsehung, indem wir Bilder und Schatten ihrer Werke aus den Dingen gemäß einer Vermutung nehmen. Wir sagen, doch: verschiedene Dinge geschehen mit Gottes Erlaubnis; es gibt viele Arten der Erlaubnis. Gott läßt oft auch den Gerechten in Unglücksfälle stürzen, um die Tugend, die sich in den Gerechten verbirgt, den andren Menschen zu zeigen, z. B. bei Job. Ein andres Mal läßt Gott etwas Unsinniges geschehen, um durch die anscheinend unsinnige Handlung etwas Großes und Staunenswertes aufzurichten, z. B. durch seine Kreuzigung die Erlösung der Menschen. Auf eine andre Art und Weise läßt er den Heiligen Mühsal ertragen, damit dieser Heilige aus seinem Bewußtsein, gut zu sein, und auf Grund der ihm geschenkten Kraft nicht in Uebermut stürze; z. B. tat er es an Paulus.
Jemand wird zur rechten Zeit im Stich gelassen zwecks Besserung eines andern, damit die andern durch Betrachtung des Verlassenen erzogen werden; das lehrt das Beispiel des Lazarus und des Reichen. Von Natur aus krampfen wir uns beim Anblick leidender Menschen zusammen; so heißt es auch bei Menander schön: „Die Gottheit fürchten wir bei deinem Leid."
Außerdem: jemand wird mit Rücksicht auf den Ruhm eines andern hintangesetzt, nicht durch eigenes oder seiner Eltern Verschulden, z. B. der Mensch, der seit Geburt blind ist, zum Ruhm des Menschensohnes. Weiter: ein Mensch wird zum Leiden bestimmt zwecks Aneifrung eines andern, damit die übrigen Menschen S. 119 zu der Vergrößerung des Ruhmes dessen, der litt, in der Hoffnung auf den zukünftigen Ruhm und beim Streben nach den erwarteten Gütern das Leiden ohne Bedenken auf sich nehmen; so lehren es die Beispiele der Märtyrer und der Menschen, die sich für Vaterland, Geschlecht, Fürsten, Kinder oder für ihren Glauben geopfert haben. Hat jemand die Ansicht: es ist widersinnig, daß der Heilige, zwecks Besserung eines andern Mühsal erdulde, so soll er erkennen: dieses Leben ist ein Kampf und eine Rennbahn der Tugend. Je größer die Anstrengungen, desto größer sind mithin die Siegeskränze. Dem Maß der Ausdauer entspricht die Gegengabe der Kampfpreise. Darum ließ Gott Paulus sich in zahllose Reibereien verwickeln, damit er den Siegeskranz größer und vollkommen davontrage. Alle Werke der Vorsehung entfalten sich schön und in gebührender Weise und allein so, wie es möglich ist: das kann man ganz richtig prüfen, wenn man diese beiden, allgemein zugestandenen Punkte heranzieht: Gott ist gut und allein weise. Also ist er wegen seiner Güte mit Recht ein Fürsorger; wegen seiner Weisheit sorgt er weise und aufs beste für die Welt. Uebt er nicht Fürsorge, so ist er nicht gut; sorgt er nicht in der richtigen Art, so ist er nicht weise. Richtet man daher seine Aufmerksamkeit auf diese Punkte, so darf man die Werke der Vorsehung keineswegs verurteilen und sie auch nicht ohne Prüfung schmähen; vielmehr muß man alle ihre Werke in richtigem Sinne auffassen, alle bewundern, man muß überzeugt sein: alle Werke entstehen in der richtigen und gebührenden Weise, auch wenn sie den meisten Menschen als ungerecht erscheinen; wir wollen nicht zur Schmähung auch noch eine Masse Tadels über unsre eigne Unwissenheit daraufladen. Sagen wir: alle Werke der Vorsehung entstehen in der richtigen Weise, so ist dies eine klar: wir sprechen vielmehr von der Schlechtigkeit der Menschen, auch nicht von den Werken, die in unsrer Macht liegen und von uns ausgeführt werden; wir sprechen vielmehr von den Werken der Vorsehung, die nicht in unsrer Macht liegen.
Warum sind also göttliche Männer von bittren Todesarten und von unverschuldeten Metzeleien hingerafft worden? Starben sie ungerechterweise, warum vereitelt da die gerechte Vorsehung nicht den Mord? Starben sie indes mit Recht, so sind ihre Mörder ganz frei von Schuld. Daraufhin werden wir entgegnen: der Mörder verübt ungerechterweise sein Verbrechen; der Ermordete wird , gerechter- oder nützlicherweise umgebracht; gerechterweise manchmal wegen sinnloser Handlungen, die uns nicht bekannt sind; nützlicherweise jedoch dann, wenn die Vorsehung die schlechten Taten unterdrückt, die der Umgebrachte noch ausführen wollte, ferner nützlicherweise deshalb, weil es für ihn gut ist, daß sein Leben bis dahin reiche, z. B. für Sokrates und die Heiligen. Der Mörder beging ungerechterweise das S. 120 Verbrechen; denn nicht wegen der Tat selbst, auch nicht, weil er sie ausführen konnte, beging er das Verbrechen, sondern freiwillig aus Gewinnsucht und Raubgier. Die Handlung liegt wohl in unsrer Macht; aber das Leiden, z. B. ermordet werden, liegt nicht in unsrer Macht. Es gibt keinen schlechten Tod — ausgenommen bleibt der Tod, den man wegen eines Vergehens erleidet; das zeigt z. B. klar der Tod der heiligen Männer. Der Uebeltater dagegen fand einen schlechten Tod, auch wenn er im Bett oder unerwartet ohne Schmerzen starb; machte er sich doch sein Vergehen zu einem schlechten Begräbnis. Jeder, der mordete, verübte einen schlechten Mord. Gegenüber den Menschen, die gerechterweise umgebracht wurden, setzte sich der Mörder in die Rolle der Scharfrichter; gegenüber den Menschen indes, die bloß nützlicherweise umgebracht wurden, gesellte er sich zu den blutgierigen und gottverfluchten Henkern. Dasselbe ist auch von den Mördern an den Feinden, ferner von solchen zu sagen, die Kriegsgefangene machen und jede Art von Schlechtigkeit gegen die Kriegsgefangenen begehen. Dasselbe gilt noch von den Menschen, die sich Reichtümer erwerben und Schätze an sich reißen. Den Leuten, denen das Geld entrissen wird, ist es ja natürlicherweise von Vorteil, wenn sie kein Geld besitzen; dagegen sind die Menschen ungerecht, die sich Reichtümer erwarben; denn aus Habsucht, nicht weil es ihnen Nutzen brachte, nahmen sie jenen Leuten das Geld weg.
