Kapitel 7: Das Gesicht
Das Wort „Gesicht" ist ein mehrdeutiger Ausdruck; damit wird das Sinneswerkzeug wie die Kraft der sinnlichen Wahrnehmung bezeichnet. Hipparch bemerkt: Strahlen, die sich von den Augen aus erstrecken, erfassen mit ihren eigenen Enden wie mit Händegriffen die Körper der Außenwelt und geben die Wahrnehmung dieser Körper an die Sehkraft weiter. Die Mathematiker beschreiben einige Kegel; diese entstehen aus dem Zusammentreffen der Strahlen, die durch die Augen ausgesandt werden. Das rechte Auge schickt Strahlen nach der linken Seite, das linke Auge nach der rechten. Aus dem Zusammentreffen der Strahlen bildet sich ein Kegel; daher umfaßt das Gesicht zugleich viele sichtbare Gegenstände, aber scharf sieht es nur die Dinge dort, wo die Strahlen zusammenfallen. So sehen wir allerdings beim Blick auf den Boden oft nicht die Münze, die darauf liegt, trotzdem wir noch solange unverwandt hinstarren, bis die Strahlen an der Stelle, wo die Münze liegt, zusammengetroffen sind; erst dann fällt unser Blick auf sie, sobald wir unsre Aufmerksamkeit darauf zu lenken begonnen haben. Die Epikureer lehren: Bilder der sichtbaren Dinge fallen in die Augen. Aristoteles vertritt die Auffassung: nicht ein körperliches Bild, sondern eine Eigenschaft gelangt durch Veränderung der Luft ringsherum von den sichtbaren Gegenständen bis zum Gesicht. Platon ist der Ansicht: Sehen kommt zustande durch Zusammentreffen des Lichtes, das aus den Augen eine gewisse Strecke weit zur gleichartigen Luft fortströmt, sowie des Lichtes, das von den Körpern entgegenstrahlt; endlich des Lichtes, das sich ringsum in der dazwischenliegenden Luft befindet; diese Luft läßt sich leicht in Fluß bringen und verändern, dabei dehnt sich das Licht gleichzeitig mit dem Feuergehalt des Gesichtes aus. Galen spricht im Einklang mit Platon vom Gesicht im siebten Buch der „Uebereinstimmung"; er schreibt gelegentlich ungefähr folgendermaßen: „Gelangte beispielshalber nur ein Teil, eine Kraft, ein Bild oder eine Eigenschaft der gesehenen Körper zum Auge, so könnten wir schwerlich die Größe des geschauten Gegenstandes, z. B. eines zufällig sehr hohen Berges, erkennen. Denn es ist ganz unsinnig anzunehmen, daß ein Bild von solcher Größe in unsre Augen fällt. Freilich ist auch der Hauch der Sehkraft S. 52 nicht dazu imstande, aus sich eine Kraft auszusondern und sie in solchem Umfang zu fassen, daß sie sich um alle geschauten Dinge ergießt. Demnach bleibt nur noch übrig: die Luft ringsum dient uns in der Zeit, da wir sehen, als Werkzeug von solcher Art, wie der Sehnerv für den Körper vorhanden ist. Die Luft, die uns umgibt, scheint ja etwas Derartiges zu erleiden. Der Strahl der Sonne, der die obere Grenze der Luft berührt, verteilt die Sonnenkraft in den ganzen Luftraum. Der Strahl, der durch die Sehnerven weitergetragen wird, hat die Wesenheit der Luft; er fällt in die umgebende Luft und bewirkt durch den ersten Ansturm ihre Veränderung; er gibt die Veränderung weiter und hält sich selbst auf sehr weite Strecke hin zusammen, bis er auf einen harten Körper fällt. Die Luft dient dem Auge zur Unterscheidung der gesehenen Dinge als solches Werkzeug wie der Nerv im Gehirn. Daher steht das Auge in dem Verhältnis zur Luft, die vom Sonnenstrahl belebt ist, wie das Gehirn zum Nerv. Die Luft gleicht sich natürlicherweise den Körpern an, die ihr nahekommen: das ergibt sich klar aus einer Art gelber Farbe, blauen Kupferokers oder eines glänzenden Silbers, das Licht ist; dieses Silberlicht strömt durch die Luft; von diesem hindurchgehenden Lichtstrahl wird die Luft verändert.
Porphyrios erklärt in seiner Abhandlung „Ueber die Wahrnehmung": kein Kegel, kein Bild, auch sonst nichts Andres ist die Ursache des Sehens; vielmehr erkennt die Seele von sich aus, wenn sie auf die sichtbaren Dinge stößt, daß sie selbst die sichtbaren Dinge darstellt; das geschieht dadurch, daß die Seele alle Dinge der Natur zusammenfaßt und daß das Weltall eine Seele ist, die verschiedene Körper umschließt. Porphyrios will folgendes: die eine Seele des Weltalls soll die vernunftbegabte sein; er bemerkt daher folgerichtig : die Seele erkennt sich selbst in allen Dingen der Natur. — Das Gesicht sieht in geraden Linien; es empfindet zuerst die Farben; zusammen mit ihnen unterscheidet es den gefärbten Körper, seine Größe, Gestalt, den Ort seiner Lage, den Abstand, die Zahl, Bewegung und Stillstand, die Rauhheit und Glätte, Ebenheit und Unebenheit, die Schärfe und die Stumpfheit, die Zusammensetzung: ob sie wasser- oder erdhaltig ist, z. B. ob es etwas Feuchtes oder Trockenes ist.
Das eigentümliche Sinnending des Gesichtes ist demnach die Farbe. Nur durch das Gesicht nehmen wir die Farben entgegen. Sogleich mit der Farbe erfassen wir den gefärbten Körper sowie den Ort, wo sich der erblickte Gegenstand gerade befindet; ferner den Abstand, der zwischen dem Betrachter und dem geschauten Gegenstand liegt. Mit all den Sinnen, denen zugleich auch der Körper sichtbar wird, erkennt man sofort, gleichzeitig auch den Ort, z. B. mit dem Gefühl und mit dem Geschmack. Aber diese Sinne (Gefühl und Geschmack) empfinden nur dann, wenn sie sich dem Körper nähern, mit Ausnahme der Körper, die nacheinander S. 53 erklärt werden sollen. Das Gesicht nimmt indes schon von ferne wahr. Da es von ferne die eigentümlichen Sinnendinge erfaßt, so hat sich notwendigerweise das hieraus ergeben: das Gesicht allein sieht auch den Abstand; das Gesicht allein unterscheidet dann die Größe, wenn es den sichtbaren Gegenstand durch einen einzigen Angriff umfassen kann. In den Fällen, wo der gesehene Gegenstand größer ist als daß er sich mit einem einzigen Angriff umfassen läßt, benötigt das Gesicht das Gedächtnis wie das Denken. Das Gesicht betrachtet den Gegenstand stückweise, nicht unter dem Gesichtspunkt eines einzigen Ganzen; so geht es notwendigerweise von einem Teil zum andern über; außerdem ist das Ding sinnlich wahrnehmbar, das jedesmal bei diesem Uebergang in den Bereich des Gesichtes fällt. Die früher geschauten Dinge bewahrt das Gedächtnis. Das Denken fügt beides zusammen: das Sinnending und das Gedächtnisbild. Infolgedessen erfaßt das Gesicht auf zweifache Art die Größe: bald als Gesicht allein, bald im Bunde mit Gedächtnis und Denken. Ebenso erfaßt das Gesicht niemals allein, sondern stets im Verein mit Gedächtnis und Denken die Zahl der gesehenen Dinge, die über drei oder vier beträgt, weil sie sich bei einem einzigen Anblick nicht überschauen läßt; auch bei den Bewegungen und den Formen der Gegenstände mit ihren vielen Winkeln verhält sich das Gesicht in der gleichen Weise. Denn es kann nicht fünf, sechs, sieben und mehr Dinge ohne Gedächtnis zusammenbringen. So kann es auch keine Figuren mit sechs, acht und überhaupt mit vielen Ecken erfassen. Die Bewegung bei diesem Uebergahg hat zwei Teile: das Früher und das Später. Wo ein Erstes, Zweites und Drittes ist, da wird dies nur vom Gedächtnis aufbewahrt. Das Oben und Unten, das Unebene und Ebene, ebenso auch das Rauhe und das Glatte, das Scharfe und das Stumpfe sind für das Gefühl und das Gesicht gemeinsame Erscheinungen; denn sie sind ja übrigens die zwei einzigen Sinne, die den Ort unterscheiden. Sie erfordern aber auch Denken. Nur das, was bei einem einzigen Angriff in die Sinnesempfindung fällt, wird allein von der Sinnesempfindung bearbeitet; was jedoch erst bei mehreren Angriffen erfaßt wird, das ist nicht Gegenstand der Sinnesempfindung allein, sondern auch des Gedächtnisses samt dem Denken; so wurde es oben dargelegt.
Das Gesicht durchdringt von Natur aus die durchsichtigen Gegenstände sogar bis in die Tiefe, zuerst und vorzüglich die Luft. Das Gesicht durchdringt sie ganz. An zweiter Stelle durchdringt es ruhiges und reines Wasser. Wir sehen demnach die Fische schwimmen. Weniger sehen wir durch Kristallglas und durch die sonstigen Gegenstände ähnlicher Art; es liegt auf der Hand, daß sie dann belichtet sind. In Wahrheit ist auch das eine Eigentümlichkeit des Gesichtes. Man soll niemand falsch dahin belehren: auch die Wärme wird vom Gesichte wahrgenommen, S. 54 denn beim Anblick des Feuers wissen wir sogleich: es ist auch warm. Wenn man sein Denken auf den ersten Anblick (des Feuers) lenkt, wird man dies finden: das Gesicht erfaßte in dem Augenblick, wo es zum erstenmal das Feuer schaute, nur seine Farbe und Form. Wie noch das Gefühl hinzukam, erkannten wir auch die Wärme des Feuers; das Gedächtnis hatte sie vom Gefühl übernommen und aufbewahrt. Wenn wir Feuer betrachten, sehen wir jetzt also nichts Anderes als die Form und die Farbe des Feuers. Das Denken übernimmt durch das Gedächtnis zusammen mit den sichtbaren Dingen auch die Wärme. Das gleiche Verhältnis findet sich auch beim Apfel. Wenn nicht bloß die Farbe und die Form, sondern auch der Geruch und die Eigenschaft des Geschmackes das Wesen des Apfels ausmacht, so weiß das Gesicht, trotzdem es diese Eigenschaften wahrnimmt, doch nicht: das ist ein Apfel. Vielmehr bewahrt die Seele die Erinnerung an den Geruch und den Geschmack; gleichzeitig beim Besichtigen denkt die Seele auch an diese Eigenschaften im Verein mit der Form und der Farbe. Wenn wir demnach einen Apfel aus Wachs für einen wirklichen Apfel halten, so hat sich nicht das Gesicht, sondern das Denken geirrt. Das Gesicht hat sich ja nicht an den ihm eigentümlichen Sinnendingen getäuscht; die Farbe und die Form hat es zusammen gesehen!
Die drei Sinne: das Gesicht, das Gehör und der Geruch nehmen also die Dinge der Außenwelt und solche Gegenstände wahr, die den Sinnen nicht nahekommen. Die Wahrnehmung geschieht hierbei durch Vermittlung der Luft. Der Geschmack empfindet ebenso, wenn er nicht an das Sinnending herankommt. Das Gefühl indes hat beide Fähigkeiten: es empfindet dadurch, daß es sich an die Körper anlehnt, sowie zuweilen mit Hilfe eines Stockes. Manchmal verlangt daher das Gesicht die zeugenmäßige Bestätigung durch die übrigen Sinne, wenn das sichtbare Ding geschickt zum Betrug geschaffen ist, z. B. beim Bild. Denn das Gewerbe der Malerei besteht darin, das Gesicht durch nicht-wirkliche Erhöhungen und Vertiefungen zu täuschen, sofern der Gegenstand von solcher Natur ist; dort braucht man dann zur Unterscheidung vor allem das Gefühl, zuweilen auch den Geschmack oder den Geruch, z. B. bei dem Apfel aus Wachs. Manchmal stellt das Gesicht aus eigener Kraft die sichtbaren Dinge klar zurecht, wenn es sie aus der Nähe beschaut. Den viereckigen Turm z. B. sieht es von ferne rund. Aber es täuscht sich auch dann, wenn wir durch Nebel oder Rauch sehen oder durch etwas Aehnliches, was den Blick verdunkelt. In ähnlicher Weise verhält es sich ferner, wenn wir durch bewegtes Wasser blicken. Das Gesicht schaut ja im Meer das Ruder sozusagen gebrochen. Aehnlich liegt die Sache noch dann, wenn das Gesicht einen durchsichtigen Stoff durchblickt, z. B. bei den Spiegeln, dem Kristallglas und den sonstigen Gegenständen ähnlicher Art; oder dann, wenn der gesehene S. 55 Gegenstand sich schnell bewegt. Die schnelle Bewegung verwirrt den Blick; infolgedessen sieht er die Dinge als rund, die nicht rund sind, und als feststehend die Dinge, die sich bewegen. Das täuscht den Blick, wenn das Denken sich mit andren Dingen beschäftigt; z. B. bei dem Menschen, der sich vorgenommen hatte, einen Freund zu treffen; er traf ihn wirklich, aber er ging an ihm deshalb vorbei, weil sein Denken bei andren Dingen weilte. Das ist allerdings überhaupt kein Irrtum des Gesichtes, sondern des Verstandes. Denn das Gesicht machte die Beobachtung und meldete sie weiter. Aber der Verstand gab auf die Mitteilungen nicht acht. Viererlei ist es vor allem, was das Gesicht zu deutlichem Erkennen braucht: ein unbeschädigtes Sinneswerkzeug, angemessene Bewegung, außerdem entsprechenden Abstand, endlich reine und helle Luft.
