Kapitel 31: Die unbewußte unfreiwillige Handlung
Unbewußt tun wir vieles, worüber wir uns nach der Tat freuen, wie man sich trotz der widerwilligen Beseitigung eines Feindes doch über den Mord freut. Dies und ähnliches nennt man nicht freiwillige, jedoch auch nicht unfreiwillige Handlungen. Andrerseits tun wir manches unbewußt, über die Ergebnisse S. 85 dieser Handlungen sind wir dann betrübt. Alles das nannte man unfreiwillige Handlungen, auf die am Ende Betrübnis folgt. Es gibt somit zwei Arten der unbewußten unfreiwilligen Handlungen: die eine ist die nicht freiwillige, die andre die unfreiwillige Handlung. Die Aufgabe besteht jetzt darin, nur von der unfreiwilligen Handlung zu sprechen. Die nicht freiwillige Handlung ordnet man ja eher den freiwilligen unter, da sie eine Mischung darstellt. Die nicht freiwillige Handlung ist bekanntlich in ihrem Anfang unfreiwillig, an ihrem Ende hingegen freiwillig. Infolge ihres Ausgangs ist aus der unfreiwilligen Handlung eine freiwillige geworden. Daher erklärt man die unfreiwillige Handlung auch folgendermaßen: eine unfreiwillige Handlung ist die, die nicht freiwillig ist und dazu Betrübnis sowie Reue verursacht. Sodann ist es etwas Andres: eine Handlung aus Unwissenheit, etwas Andres: sie als Unwissender zu begehen. Wenn die Ursache der Unwissenheit bei uns liegt, dann handeln wir als Unwissende, aber nicht aus Unwissenheit. Der Betrunkene und der Zornige tun etwas Schlechtes; der eine hat den Trank, der andre den Zorn als Ursache seiner Taten; das waren gerade freiwillige Handlungen. Dem Manne war es doch möglich, sich nicht betrunken zu machen. Somit hat er sich selbst die Unwissenheit verursacht. Dies heißt also nicht: etwas aus Unwissenheit tun, sondern: als Unwissender handeln; eben das sind keine unfreiwilligen, sondern freiwillige Handlungen. Daher erfahren die Leute, die diese Handlungen ausüben, von den tüchtigen Menschen noch Tadel. Hätte sich der Mann nicht betrunken, so hätte er keine Untat verübt. Nun betrank er sich freiwillig, darum verübte er freiwillig diese Untaten. Aus Unwissenheit vollziehen wir diese Handlungen, während wir nicht selbst die Ursache der Unwissenheit liefern; vielmehr kam es gerade so durch Zufall. Z. B.: jemand schoß am gewohnten Ort, traf zufällig seinen Vater, der vorüberging, und tötete ihn. Aus diesen Darlegungen ergibt sich folglich der Nachweis: der Mensch, der die nützlichen Dinge nicht kennt, und derjenige, der die schlechten Dinge für trefflich hält, erdulden kein unfreiwilliges Leiden. Die Unwissenheit entspringt der Schlechtigkeit des Menschen; daher wird eben dieser Mensch getadelt. Nur die freiwilligen Handlungen berührt der Tadel. Mithin erstreckt sich die unfreiwillige Unwissenheit nicht auf alle und auf die allgemeinen sittlichen Gesetze, auch nicht auf die vorzüglichen Handlungen, sondern nur auf die einzelnen Umstände einer Tat. Die Einzelumstände bleiben uns eben gegen unsern Willen, die allgemeinen Gesetze jedoch mit unserem Willen unbekannt.
Nach diesen Begriffsunterscheidungen haben wir also der Reihe nach die Beschaffenheit der Einzelumstände zu beschreiben. Diese Einzelumstände sind solche, die die Redelehrer als „Teile der Umstände" bezeichnen: wer? wen? was? wodurch? wo? wann? S. 86 wie? warum? Das bedeutet: Person, Tat, Werkzeug, Ort, Zeit, Art und Weise, Grund. — Person heißt der Mensch, der handelt, oder der, um den sich die Handlung dreht; beispielsweise wenn ein Sohn, ohne es zu wissen, seinen Vater schlug. Tat heißt eben das, was ausgeführt worden ist; z. B. wenn jemand nur eine Ohrfeige erteilen wollte und dabei ein Auge ausschlug. Werkzeug, wenn jemand einen Stein schleuderte und ihn für einen Bimsstein hielt. Ort: wenn man an der engen Biegung des Weges, ohne es zu wissen, den Entgegenkommenden stieß. Zeit: wenn jemand in der Nacht seinen Freund für einen Feind hielt und ihn tötete. Art und Weise: wenn, man einen Menschen leicht und ohne Ungestüm schlug und ihn dabei tötete. Der Täter wußte ja nicht, ob der leicht Geschlagene sterben werde. Grund: wenn der eine ein Heilmittel als gesundheitfördernd verabreicht, während es der andre nahm und daran starb; dadurch wurde das Heilmittel als Gift erkannt. Freilich ist auch ein Mensch im Wahnsinn zugleich über all diese Umstände nicht in Unkenntnis. Wer indes über die meisten oder die vorzüglicheren dieser Einzelumstände in Unkenntnis war, der hat aus Unwissenheit gehandelt. Der wichtigste Punkt unter diesen Einzelumständen ist folgender: weswegen etwas geschieht, und: was geschieht; d. h: der Grund und die Tat.
