Kapitel 42: Die Vorsehung
Daß der Mensch mit freiem Willen begabt ist, ferner: worüber er mit freiem Willen verfügt, sodann: aus was für einem Grund er mit freiem Willen ausgestattet worden ist, haben wir zur Genüge oben dargelegt. Nicht jeder, der sich vornahm zu töten, tötet überhaupt; sondern bald tötet er, bald nicht, weil sein Vorsatz gehemmt ist und nicht aufs Ziel eilen kann; S. 107 daher bezeichneten wir die Vorsehung als Ursache dieser Erscheinungen, nicht das Schicksal. Der Abhandlung über das, was in unsrer Macht liegt, folgt die Darstellung über die Vorsehung. Auch diese Darstellung zerfällt in drei Teile. Der erste handelt davon, ob es eine Vorsehung gibt; der zweite, was sie ist; der dritte, worauf sie sich erstreckt. Ein Jude freilich wird, auch wenn er nicht rasend ist, die Vorsehung nicht kennen, obwohl er von den Wundertaten in Aegypten weiß und von den Ereignissen in der Wüste etwas gehört hat; an diesen Ereignissen offenbarte sich die Vorsehung den Menschen glänzender als in den sichtbaren Dingen; ein Jude wird die Vorsehung nicht erkennen, obgleich er viele Werke der Vorsehung auch an den Propheten und in Babylon wahrgenommen hat, Werke, die auch nicht einen einzigen Zweifel zulassen. Das alles belehrt die Christen darüber: es gibt eine Vorsehung; besonders belehrt dies alles über das göttliche und wegen der ausgezeichneten Menschenliebe ganz unglaubliche Werk der Vorsehung: die Menschwerdung Gottes unsertwegen. Die Darlegung richtet sich nicht bloß an diese Juden, sondern auch an die Griechen (Heiden), darum wollen wir auch durch andre Gründe, denen jene Juden und Griechen (Heiden) Glauben schenken, das Dasein einer Vorsehung beweisen. Daß es also eine Vorsehung gibt, kann man durch dieselben Gründe beweisen, mit denen wir gezeigt haben: es gibt auch einen Gott. Der dauerhafte Bestand aller Dinge, vor allem der Dinge, die entstehen und vergehen; ferner die Lage und die Ordnung der Dinge, die stets in gleicher Weise bewahrt wird; der Lauf der Sterne, der sich niemals etwas ändert; der Kreislauf des Jahres, die Wiederkehr der Jahreszeiten, die Gleichheit der Nächte und der Tage im Jahre, da beide (Tag und Nacht) wechselweise nicht mit größerem oder kleinerem Maß zunehmen und abnehmen: wie könnte man diese Gleichheit in ähnlicher Weise dauernd beibehalten, wenn niemand dafür sorgte? Ja auch die Strafe, die den Vergehen nachfolgt, noch mehr die Entdeckung der Vergehen selbst, die durch gewisse Umstände ans Tageslicht kommen, wenn niemand sie zu überführen vermag; — diese Strafe und Entdeckung zeigt klar: es gibt eine Vorsehung.
Voll von derartigen Geschichten sind die Schriften der Hebräer und die Schriftstellerei der Griechen. Als ein solcher Fall wurde z. B. in der Schrift das Leiden der Susanna mitgeteilt, im griechischen Schrifttum die Geschichte des Dichters Ibykos. Als dieser von einigen umgebracht wurde und keinen Helfer oder Zeugen beim Ueberfall hatte, sah er Kraniche und rief: „Ihr Kraniche, nehmt Rache für meine Ermordung." Als die Einwohner der Stadt die Mörder suchten und sie nicht finden konnten, flogen während einer Theatervorstellung, als das Volk dasaß, Kraniche darüber hin. Bei ihrem Anblick brachen die Mörder in ein Gelächter aus und riefen: „Sieh da, die Rächer des Ibykos." Als das einer S. 108 der Zuschauer in der Nähe vernahm, machte er bei den Behörden eine Anzeige; da wurden die Täter ergriffen und gestanden den Mord. Eine Menge andrer derartiger Fälle ist in den Schriften des Altertums aufgezeichnet; wollte man sie sammeln, so müßte man das Buch in eine endlose Länge ausdehnen. Wenn sich nicht für alle Uebeltäter dieselbe Art der Ueberführungen anwenden läßt, sondern einige auch zu entkommen scheinen, so soll deswegen niemand die Vorsehung leugnen. Sorgt sie doch nicht nur auf eine einzige Art für die Menschen, sondern auf viele, verschiedene Arten. Nicht zum wenigsten zeigt die Herstellung und die überall ähnlich bewahrte Gleichheit der Körper, die entstehen und vergehen: es gibt eine Vorsehung. In jedem Teile des Körpers zeigt sich die Sorgfalt der Vorsehung; das können die ernsten Forscher aus verschiedenen Schriften erschließen. Auch die Buntheit der Farben an den Tieren, die stets den gleichen Schmuck bewahrt, ruft laut: es gibt eine Vorsehung. Die bei allen Menschen gemeinsam geltende Ansicht: man muß beten und die Gottheit mit Weihgeschenken sowie in geweihten Räumen verehren, ist ein deutliches Erkennungszeichen der Vorsehung. Würde z.B. das Weltall nicht von einer Vorsehung gelenkt, wie oder zu wem könnte man da noch beten? Auch der Eifer, den die Menschen mit richtiger Empfindung bei den Wohltaten in natürlicher Weise offenbaren, verkündet die Vorsehung. Da wir den Lohn von ihr in Zukunft erwarten, haben wir den Vorsatz, auch denen wohlzutun, die uns keine Wohltat wieder erweisen können.
Hebt man die Vorsehung auf, so ist den Menschen, die Unrecht tun können, das Unrechttun überlassen. Aber auch Mitleid und Gottesfurcht ist dann beseitigt, zugleich damit Tugend und Frömmigkeit. Wenn Gott nicht vorsorgt und straft, wenn er den Rechtschaffenen keine Belohnungen erteilt und die Schäden nicht von den Geschädigten abwendet, wer kann da noch vor Gott niederknien, der uns keine Hilfe für keinen Fall bereitstellt? Aufgehoben ist die Weissagung und jedes Vorauswissen. Doch stimmen diese Dinge nicht mit dem überein, was fast Tag für Tag geschieht. Denn oft erscheint die Gottheit in Zeiten der Not, auch viel Hilfe wird den Menschen gewährt, die durch Träume erschöpft sind; viele Ausblicke in die Zukunft wurden für jedes einzelne Geschlecht gemacht, viele Mörder und Gesetzesübertreter werden bei Tag und bei Nacht in Schrecken versetzt. Sonst ist Gott gut. Weil er gut ist, zeigt er sich wohltätig. Wenn er Wohltaten verteilt, waltet er auch mit Vorsehung. Wozu soll man die Werke der Schöpfung erwähnen: ihr richtiges Verhältnis, ihre Uebereinstimmung, Lage, Ordnung und Nutzen, den jedes einzelne Werk dem Weltall bietet? Wozu soll man davon sprechen: die Werke können in keinem andren trefflichen Zustand sein, als sie jetzt sind; sie lassen keine Erweiterung zu, aber keins von den Dingen kann fehlen, sondern alle Werke sind in vollkommener S. 109 Ordnung und herrlich, sie sind mit Weisheit und mit Vorsehung geschaffen worden? Aber die Darstellung dieser Punkte wollen wir verschieben, bis wir von der Schöpfung sprechen; uns soll nicht das widerfahren, was vielen begegnet ist, die über die Vorsehung schrieben. Die Schöpfung preisen sie statt der Vorsehung; allerdings führt uns die Schöpfung zur Besprechung der Vorsehung hin, doch ist sie stark von der Vorsehung verschieden.
Vorsehung und Schöpfung ist nicht dasselbe. Das Werk der Schöpfung besteht darin, die Dinge bei ihrem Entstehen schön herzustellen. Die Aufgabe der Vorsehung ist es, sich recht um die Dinge in ihrem Entstehen zu kümmern. Diese Begriffe (Schöpfung und Vorsehung) hängen überhaupt nicht miteinander zusammen: das kann man an den Männern erkennen, von denen jeder ein besonderes Gewerbe nach einer besonderen Regel ausübt.
Zum Beispiel setzen die einen von diesen Männern nur darein ihre Kraft, eine schöne Leistung hervorzubringen; sie kümmern sich um nichts weiter; so handeln Künstler, Maler und Bildhauer. Die anderen dagegen üben bloß Sorgfalt und Vorsicht aus, z. B. Viehtreiber und Hirten. Daher können auch wir in dem Abschnitt über die Schöpfung in der nötigen Form beweisen: die geschaffenen Dinge sind trefflich erschaffen worden; dagegen ist in der Ausführung über die Vorsehung zu erklären; die Vorsehung wendet nach der Entstehung der Dinge ihnen die notwendige Sorgfalt zu. Wenn die Vorsehung fehlt, wie wird da stets ein Mensch von einem andren Menschen, ein Rind von einem andren Rind erzeugt? Wie entsteht dann ferner jedes einzelne Wesen aus seinem eigenen und nicht aus einem fremden Samen? Wenn man z. B. sagt: gemäß der Entstehung im Anfang pflanzen sich die erschaffenen Dinge mittels einer inneren Verknüpfung fort, so erklärt man damit: die Vorsehung hängt vollständig mit der Schöpfung zusammen. Denn daß sich die erschaffenen Dinge vermittels einer inneren Verknüpfung fortpflanzen, zeigt klar folgendes: die Vorsehung ist zusammen mit der Schöpfung eingerichtet worden. Die Aufgabe der Vorsehung ist es, die Welt der Dinge nach ihrer Erschaffung zu leiten; so kann man nichts Andres sagen als dies: der Schöpfer und der Fürsorger der Dinge ist ein und dasselbe Wesen. Sieht man die soviel tausendmal verschiedenen Gestalten der Menschen, die nirgends in allen Teilen übereinstimmen, soll man da nicht das Werk bewundern und beim Nachdenken über seine Ursache finden: die verschiedene Form der einzelnen Dinge ist von der Vorsehung geschaffen worden? Denn siehe nur einmal! Besäßen alle Menschen dasselbe Gepräge der Form ohne eine Abweichung, eine wie große Verwirrung der Verhältnisse entstände da! Eine wie große Unkenntnis und Finsternis beherrschte da den Menschen, der nicht den Verwandten erkennen, der nicht den Fremden, nicht den Feind, auch nicht den Schlechten vom Freund und vom tüchtigen Manne unterscheiden könnte! Da geschähen S. 110 in Wahrheit alle Dinge gleichzeitig, wie Anaxagoras lehrt. Läge die Sache wirklich so, dann stände uns nichts im Wege, unsre Schwester oder unsre Mutter zu heiraten, einen Raub zu verüben oder sonst eine Untat öffentlich zu begehen, wenn man sich nur für den gegenwärtigen Augenblick in Sicherheit flüchten könnte; würde man erst nach diesen Handlungen gesehen, so würde man nicht mehr erkannt.
Es würde auch kein Gesetz und keine Staatsverfassung geschaffen. Väter und Kinder würden einander nicht erkennen. Außerdem gäbe es sonst nichts im menschlichen Leben, was einen Zusammenhang aufwiese. Der Mensch wäre blind gegenüber seinen Mitmenschen, der Gesichtssinn könnte ihm nur geringe Hilfe leihen. Denn mit Ausnahme des Lebensalters und der Körpergröße könnte er nichts Andres unterscheiden. Soviel Güter hat uns die Vorsehung gebracht; sie gestaltet die Form der Menschen immerwährend und überall verschiedenartig, sie läßt keine Zeit zu dieser abwechselnden Formgestaltung vorübergehen. Das ist der stärkste Beweis dafür, daß sich die Vorsehung auch um die einzelnen Dinge kümmert. Insofern gilt dies, als man jeden einzelnen außer an seinen Gesichtszügen, der Gestaltung des Körpers und am Charakter auch noch an seiner Stimme erkennt, selbst wenn man nicht genau auf derartiges achtet, denn die Gestalt genügt. Nachträglich hat uns die Vorsehung auch das verliehen: die Verschiedenheit der Farben, damit die schwache Menschennatur in vielfacher Weise Unterstützung findet. Nach meiner Meinung haben sogar die meisten Tiere, die der Art nach von gleicher Gestalt sind, z. B. Krähe und Rabe, verschiedene Färbungsunterschiede im Gesicht; daran stellt man wechselweise Abhängigkeit und Zusammengehörigkeit der Tiere fest. Krähen und Raben z. B. scharen sich häufig in Mengen zusammen; nach dieser Sammlung fliegen sie wieder auseinander, da jede Krähe und jeder Rabe den Angehörigen seiner Rasse erkennt. Wie sollten sich diese Tiere gegenseitig erkennen, wenn nicht in jedem einzelnen ein eigenes Gepräge innewohnte, das uns zwar nicht deutlich erkennbar, dagegen den artverwandten von Natur aus leicht begreiflich ist? Ja die Zeichen, die Orakel, die Mahnungen und die Wundererscheinungen — eben an die Griechen (Heiden) richtet sich meine Ausführung — erhalten nach ihrer eigenen Lehre — so behaupten es die Griechen selbst — die Ausgänge der Dinge, die durch die Orakel mitgeteilt werden; diese Zeichen machen fast ganz nach Art der Vorsehung ihre Verkündigungen, sie fügen den angekündigten Erscheinungen die Ausgänge als bewahrheitende Bekräftigung hinzu.
