Kapitel 30: Die unfreiwillige Handlung
Die eine unfreiwillige Handlung geschieht gezwungen, die andre unbewußt. Für die unfreiwilligen gezwungenen Handlungen kommt der bewirkende Anlaß von außen her. Denn etwas Andres verursacht den Zwang, nicht wir. Die Begriffsbestimmung der unfreiwilligen gezwungenen Handlung lautet demnach: sie ist eine Handlung, deren Anlaß von außen kommt, ohne daß der Gezwungene etwas aus eigenem Antrieb zur Handlung beiträgt. Mit „Anlaß" ist hier die bewirkende Ursache bezeichnet worden. Man untersucht, ob auch dies unfreiwillige Handlungen sind: z ß. das Hinauswerfen von Schiffslasten, wie es die Seeleute, von einem Sturm überfallen, besorgen; oder wenn es jemand auf sich nimmt, eine Schandtat zu erleiden oder auszuüben, um seine Freunde oder sein Vaterland zu retten. Diese Leute scheinen indes vielmehr freiwillig zu handeln. Darum hat ja die Begriffsbestimmung den Zusatz erfahren: „ohne daß der Gezwungene etwas aus eigenem Antrieb zur Handlung beiträgt." Bei derartigen Fällen setzen die Leute selbst aus freiem Willen die Körperteile in Bewegung, die als Werkzeuge dienen, und so werfen sie die Schiffslasten ins Meer. Aehnlich handeln auch diejenigen, die wegen eines größeren Gutes eine schändliche oder furchtbare Tat auf sich luden; so biß z. B. Zenon seine eigene Zunge ab und spuckte sie dem Tyrannen Dionysios hin, um ihm in keiner Weise die Geheimlehren seiner Schule zu verraten. Aehnlich verhielt sich auch der Philosoph Anaxarchos; er lieiß sich vom Tyrannen Nikokreon zermahlen, um seine Freunde nicht zu verraten. Im allgemeinen gilt demnach: wählt man aus Furcht vor größeren Uebeln das kleinere Uebel oder nimmt man in der Hoffnung auf ein größeres Gut das kleinere Uebel an, das man nicht anders berichtigen kann, so unterzieht man sich keinem unfreiwilligen Leiden oder keiner unfreiwilligen Tat; denn man handelt dabei mit Absicht und Auswahl. In diesem Falle sind die Taten erstrebenswert, wenn man sie vollzieht, trotzdem sie an sich nicht erstrebenswert sind. Die Taten sind demnach gemischt aus unfreiwilliger und freiwilliger Handlung; aus unfreiwilliger Handlung bestehen die Taten an sich, aus freiwilliger erst dann, wenn sie wegen eines Umstands geschehen. Ohne einen Umstand will wohl niemand diese (oben erwähnten) Taten ausführen. Auch das Lob oder der Tadel, der sich an derartige Taten anschließt, S. 84 offenbart die Freiwilligkeit der Taten. Für Werke unfreiwilliger Handlung wird es keinerlei Lob oder Tadel geben. Die Entscheidung ist allerdings nicht leicht, welche Sache anstelle einer andern zu wählen ist!
Man soll indes möglichst oft die Mühsal statt der Schande wählen, wie es Susanna und Joseph taten; freilich nicht immer. Origenes entzog sich allerdings, um nicht der Schmähung der Aethiopen ausgesetzt zu sein, durch Götteropfer jeder Belästigung. So fällt die genaue Beurteilung derartiger Handlungen nicht leicht. Aber noch schwieriger als dies ist es, bei den Beschlußfassungen zu verharren. Die Schrecken, die man erwartet, jagen z.B. nicht in ähnlicher Weise Furcht ein wie solche, die einen schon packen. Doch fallen wir manchmal nach der Urteilsbildung von unsrer Entscheidung ab, wenn wir uns in furchtbaren Umständen befinden; so ist es manchen Märtyrern ergangen. Nachdem sie sich im Anfang standhaft gezeigt hatten, gaben sie am Ende nach, da sie bei der Abwehr der Beschwerden erschlafft waren. Niemand halte die Begierde nach dem ausgelassenen Treiben oder den Zorn für solche Fehltritte, die man unfreiwillig begeht; denn auch diese Fehler haben in der Außenwelt den Anlaß, der sie hervorruft. Die Schönheit der Dirne z. B. reizte den, der sie sah, zur Ausschweifung, und der Mann, der diesen aufregte, entflammte seinen Zorn. Wenn auch die Menschen den Anlaß zum Handeln von außen bekommen, so betätigen sie sich doch durch sich selbst und mit den Körperteilen, die als Werkzeuge dienen; diese Menschen fallen somit nicht unter den Begriff der unfreiwilligen Handlung, zumal sie sich selbst den Grund des Anlaßes bieten; werden sie doch nur wegen schlechter Erziehung mühelos von den Leidenschaften gefangen. Tadel erfahren zum mindesten die Menschen, die diese Leidenschaften ausüben, da sie ein freiwilliges Uebel auf sich laden. Es ist klar, daß es freiwillig geschieht: Die Menschen freuen sich ja über die Tat. Die unfreiwillige Handlung dagegen wurde als betrübnisvoll erwiesen. Von der gezwungenen unfreiwilligen sei dies gesagt. Uebrig bleibt nun noch, von der unbewußten unfreiwilligen Handlung zu sprechen.
