Kapitel 6: Das Vorstellungsvermögen
S. 49 Das Vorstellungsvermögen ist eine Kraft der vernunftlosen Seele. Diese Kraft wirkt durch die Sinneswerkzeuge. Der vorgestellte Gegenstand ist das, was so unter die Vorstellung fällt wie das Sinnending unter die Wahrnehmung. Die Vorstellung ist ein Erleiden der vernunftlosen Seele, das durch einen vorgestellten Gegenstand entsteht. Das Vorstellungsbild (Phantasma) ist ein inhaltsloses Erleiden (ein leerer Eindruck) in den vernunftlosen Teilen der Seele; dieses Erleiden wird von keinem vorgestellten Gegenstand geweckt. Die Stoiker nennen diese vier Stücke: die Vorstellung, den vorgestellten Gegenstand, das Vorstellungsvermögen und das Vorstellungsbild. Als Vorstellung bezeichnen sie das Erleiden der Seele; dieses Erleiden zeigt sich selbst sowie den vorgestellten Gegenstand, der das Erleiden erzeugt hat. So oft wir z. B. etwas Weißes erblickt haben, entsteht in der Seele ein Erleiden infolge der Erfassung des Weißen. Denn wie in den Sinneswerkzeugen sich ein Erleiden abspielt, wenn sie eine Wahrnehmung machen, so geschieht auch in der Seele ein Erleiden, wenn sie denkt. Sie nimmt in sich selbst ein Bild des gedachten Dinges auf. Als „vorgestellten Gegenstand" erklären die Stoiker das Sinnending, wodurch die Vorstellung erzeugt worden ist; dahin gehört beispielshalber das Weiße und alles, was in der Seele Bewegung hervorzurufen vermag. Unter „Vorstellungsvermögen" verstehen sie die inhaltsleere Zwangsvorstellung ohne einen vorgestellten Gegenstand. „Vorstellungsbild" ist endlich das, wodurch wir uns führen lassen entsprechend der inhaltsleeren Zwangsvorstellung des Vorstellungsvermögens; so ist es bei den Irrsinnigen und den Schwermütigen der Fall. Die Verschiedenheit gegenüber diesen Stoikern besteht nur in der Vertauschung der Bezeichnungen. Als Werkzeuge des Vorstellungsvermögens dienen die vorderen Gehirnkammern und der Seelenhauch in ihnen; ferner die Nerven, die von diesen Kammern auslaufen und vom Seelenhauch durchweht sind; endlich der Bau der Sinneswerkzeuge. Es gibt fünf Sinneswerkzeuge, aber nur eine Sinnesempfindung, die seelischer Art ist; sie erkennt durch die Sinneswerkzeuge die Veränderungen, die sich in ihnen vollziehen. Durch das irdischste und körperlichste der Sinneswerkzeuge — das ist der Tastsinn — nimmt die Seele die irdische Natur wahr. Mit dem glänzendsten Sinneswerkzeug — das ist der Gesichtssinn — erfaßt sie die glänzenden Dinge. Ebenso stellt sie mit dem luftartigen Sinneswerkzeug (dem Ohr) die Lufterschütterungen fest. (Die Wesensgrundlage der Stimme ist bekanntlich die Luft oder die Lufterschütterung.) Durch das schwammartige S. 50 und wasserhaltige Sinneswerkzeug, den Geschmacksinn, nimmt die Seele die Säfte entgegen. Jedes einzelne Sinnending läßt sich ja naturgemäß durch sein eigentümliches Sinneswerkzeug erkennen.
Entsprechend dieser Berechnung müßte es also, da es vier Grundstoffe gibt, auch vier Sinne geben. Aber der Dampf und die Gattung der Düfte stehen ihrer Natur nach in der Mitte zwischen Luft und Wasser. (Der Dampf ist gewiß dicker als Luft, dünner als Wasser; diese Tatsache findet deutlichen Ausdruck durch die Krankheit des Schnupfens. Denn die Menschen, die an Schnupfen leiden, ziehen die Luft durch das Atmen ein. Bei diesem Luftschöpfen nehmen sie keine Dämpfe entgegen. Wegen der Verstopfung dringt der dickere Dampfstoff nicht bis zur Sinnesempfindung.) Deswegen hat die Natur als fünftes Sinneswerkzeug den Geruchsinn erfunden. Der Zweck ist der: kein einziges Ding, das erkannt werden kann, soll sich der sinnlichen Wahrnehmung entziehen. Tatsächlich bedeutet die Sinnesempfindung keine Veränderung, sondern sie ist die kritische Feststellung einer Veränderung. Die Sinneswerkzeuge verändern sich, die Sinnesempfindung beurteilt die Veränderung. Man bezeichnet häufig auch die Sinneswerkzeuge als Sinnesempfindung. Die Sinnesempfindung äußert sich in der Erfassung der sinnlich wahrnehmbaren Dinge. Diese Begriffsbestimmung betrifft offenbar nicht die Sinnesempfindung an sich, sondern ihre Tätigkeiten. Daher erklären Forscher die Sinnesempfindung auch folgendermaßen: „Sie ist ein geistiger Hauch, der sich vom führenden Seelenteil (von der Vernunft) auf die Werkzeuge des Körpers ausgedehnt hat." Außerdem beschreiben sie ihr Wesen auch in dieser Fassung: „Sie ist eine Seelenkraft mit der Fähigkeit, die sinnlich wahrnehmbaren Dinge entgegenzunehmen." Ein Sinneswerkzeug ist ein Mittel zur Aufnahme der sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände. Platon nennt die Sinnesempfindung eine Gemeinschaft von Seele und Leib inbezug auf die Dinge der Außenwelt. Die Kraft ist ja ein Teil der Seele, das Sinneswerkzeug dagegen gehört zum Leib; beide zusammen nehmen durch die Vorstellung die Dinge der Außenwelt entgegen. Von den Seelenkräften sind die einen dienender Natur und haben die Bedeutung von Leibwächtern; die andern sind zum Herrschen und Führen geeignet. Kräfte, die sich zum Herrschen eignen, sind die Vernunft und die Wissenschaft; dienender Natur sind die Teile, die zum Wahrnehmen als geeignet erscheinen, die Bewegung, die sich aus dem Triebe ergibt, und die Stimme. Die Bewegung und die Stimme gehorchen nämlich aufs pünktlichste und fast ohne Zeit verstreichen zu lassen, dem Willen der Vernunft. Zur gleichen Zeit und an demselben Orte äußern wir unsern Willen und unsere Bewegung; dabei brauchen wir zwischen der Handlung des Wollens und der Bewegung keine Zeit; das läßt sich z. B. an der Bewegung der S. 51 Finger beobachten. Auch einige Vorgänge in der Welt der Natur unterliegen der Führung der Vernunft; z. B. die sogenannten Leidenschaften.
