Kapitel 41: Aus welchem Grunde wir mit freiem Willen ausgestattet worden sind
S. 104 Es erübrigt sicb noch zu bemerken, aus welchem Grunde wir mit freiem Willen ausgestattet worden sind. Wir bemerken gleich: der freie Wille geht mit dem Denkvermögen zusammen, die geschaffenen Dinge besitzen von Natur aus die Fähigkeit der Veränderung und der Drehung, besonders die Dinge, die aus einem zugrunde liegenden Stoff entstanden sind. Der Anfang der Entstehung ist die Veränderung. Aus der Veränderung des zugrunde liegenden Stoffes kommt die Entstehung. Man wird den Satz verstehen, wenn man alle Pflanzen und Tiere ins Auge faßt, die auf dem Lande, in der Luft und im Wasser leben. Sie verändern sich beständig. Der freie Wille geht auch mit der Vernunft zusammen: das folgt recht klar aus den Darlegungen über das, was in unsrer Macht liegt, für die ernsten Hörer. Vielleicht ist es gar nicht unsinnig, auch jetzt an dieselben Ausführungen zu erinnern; denn die Reihenfolge der Auseinandersetzung erfordert sie. Der eine Teil der Vernunft ist theoretisch, der andre praktisch. Die theoretische Vernunft betrachtet, wie sich die Dinge verhalten. Die praktische ist beratender Natur, sie bestimmt das richtige Maß für die ausführbaren Handlungen. Die theoretische Vernunft nennt man Verstand, die praktische dagegen Ueberlegung. Die theoretische Vernunft bezeichnet man mit Weisheit, die praktische mit Einsicht. Jeder, der sich berät, weil die Wahl der Handlungen in seiner Macht liegt, berät sich, um das auszuwählen, was auf Grund der Beratung vorgezogen war, und um es nach der Wahl auszuführen. Wer die Macht hat, sich zu beratschlagen, muß auch durchaus Herr seiner Handlungen sein. Ist er nicht Herr seiner Handlungen, so hat er überflüssigerweise die Gabe, sich zu beratschlagen. Ist er dagegen Herr seiner Handlungen, so besteht notwendigerweise der freie Wille neben dem Denkvermögen. Denn es wird kein Denkvermögen geben oder, falls es vorhanden ist, wird es Herr seiner Handlungen sein. Ist es Herr seiner Handlungen, so wird es durchaus mit einem freien Willen ausgestattet sein. Es wurde gezeigt: auch die Dinge sind veränderlich, die aus einem zugrunde liegenden Stoff sind.
Aus beidem folgt also: der Mensch ist notwendigerweise mit freiem Willen ausgestattet und veränderlich. Veränderlich ist der Mensch, denn er ist erschaffen worden. Mit freiem Willen ist er ausgestattet, denn er ist auch vernünftig. Alle, die Gott beschuldigen, den Menschen gegen Schlechtigkeit nicht als unempfänglich, sondern ihn als mit freiem Willen begabt geschaffen zu haben, beschuldigen, ohne es selbst zu wissen, Gott, den Menschen als vernünftig und nicht als vernunftlos geschaffen zu S. 105 haben. Von den zwei Ansichten muß die eine richtig sein: entweder ist der Mensch vernunftlos, oder er ist, wenn er vernünftig ist und sich mit den ausführbaren Handlungen beschäftigt, mit freiem Willen ausgestattet. Notwendigerweise ist danach jede vernünftige Natur mit freiem Willen begabt und in ihrer eigenen Natur veränderlich. Dagegen lassen sich die Naturen, die aus einem zugrunde liegenden Stoff entstanden sind, auf zwei Arten verändern: wegen ihres Stoffes und gerade darum, weil sie entstanden sind. Alle übrigen Naturen, die nicht aus einem zugrunde liegenden Stoff entstanden, sind nur durch die eine Art ihrer Entstehung veränderlich. Andrerseits sind alle stofflosen Naturen, die sich rings auf der Erde finden und infolge ihrer Gemeinschaft mit den Menschen bei den Handlungen beteiligen, veränderlicher als die andren Naturen. Dagegen bleiben alle folgenden Naturen unverändert: die sich infolge ihrer ausgezeichneten Natur durch ihre innere Haltung Gott nähern und durch die Betrachtung Gottes die Glückseligkeit genießen, die sich nur sich selbst zugewandt, von den Handlungen und dem Stoff ganz und gar abgesondert, und der Beschauung sowie Gott zu eigen gegeben haben. Sie sind mit freiem Willen ausgestattet, weil sie vernünftig sind, aber sie sind unveränderlich aus den oben genannten Gründen. Das ist gar kein Wunder. Denn alle Menschen, die der Betrachtung ergeben waren und sich von den Geschäften getrennt hatten, blieben unveränderlich. Ich glaube: mit diesen Ausführungen ist zugleich dies bewiesen worden: von Anfang an sind alle vernünftigen Naturen aufs beste erschaffen worden; ferner: wären sie so geblieben, wie sie von Anfang an geschaffen waren, so wären sie von jeder Schlechtigkeit entfernt gewesen. Aber sie stürzen vorsätzlich in die Schlechtigkeit. Verharren sie freilich in dem ursprünglichen Zustand ihrer Geburt, so genießen sie die Glückseligkeit. Die Engel waren die einzigen körperlosen Wesen, die sich veränderten, auch sie wieder nicht alle, sondern nur einige von denen, die zum Niederen geneigt, Verlangen nach den irdischen Dingen trugen, als sie ihr Streben nach dem Höheren und zu Gott aufgegeben hatten.
Also ergibt sich aus dem Bewiesenen klar: wir haben das Vermögen, mit dem wir einen Vorsatz zustande bringen, als veränderlich, weil wir von Natur veränderlich sind; allerdings darf man deshalb, weil wir veränderliche Fähigkeiten besitzen, Gott nicht unsre Schlechtigkeit zum Vorwurf machen. Nicht in den Kräften, sondern in den dauernden Seelenzuständen wurzeln die Schlechtigkeiten. Die dauernden Zustände hängen von unsrem Vorsatz ab. Wir werden also durch unsren Vorsatz schlecht, wir sind nicht von Natur aus schlecht. Den Satz kann man noch genauer so erfassen: Im vorhergehenden bezeichneten wir das als Kraft, wodurch wir jede einzelne Sache, die wir tun, ausführen können. Jede Kraft, einen Vorsatz zustande zu bringen, beschäftigt sich mit den Gegensätzen. Es ist ein und dasselbe S. 106 Vermögen: zu lügen und die Wahrheit zu sagen; es ist ein und dasselbe Vermögen: in ernster und in zügelloser Art sein Leben zu führen. Der gleiche dauernde Zustand trifft jedoch nicht mehr bei den Gegensätzen zu, beispielsweise bei der zügellosen und bei der ernsten Art, sein Leben zu führen, oder dabei: zu lügen und die Wahrheit zu sagen; die einen Zustände sind vielmehr den andren entgegengesetzt; ernst leben ist ein Zustand der Tugend; zügellos leben ist ein Zustand der Schlechtigkeit. Die Schlechtigkeiten sind demzufolge keine Kräfte, sondern sie gehören zu den dauernden Zuständen und zum Vorsatz. Nicht die Kraft macht uns dazu fähig; zügellos zu leben oder zu lügen, sondern der Vorsatz. Lag es doch in unsrer Macht, die Wahrheit zu sagen und nicht zu lügen. Ist die Schlechtigkeit also keine Kraft, sondern ein dauernder Zustand, so ist nicht der an den Schlechtigkeiten schuld, der uns die Kraft verlieh, sondern der dauernde Zustand, der von uns, durch uns und unsertwegen erworben wird. Man konnte ja den entgegengesetzten dauernden Zustand durch die Uebung erwerben, und zwar nicht den schlechten Zustand. Die Kraft unterscheidet sich von dem dauernden Zustand so: sämtliche Kräfte sind natürlich, die dauernden Kräfte dagegen hinzuerworben; ferner: die Kräfte sind nicht lehrbar, die dauernden Zustände jedoch werden durch Lernen und Gewohnheit gewonnen. Ist also die Kraft natürlich und nicht lehrbar, der dauernde Zustand hingegen erworben und lehrbar, so ist nicht die Natur die Ursache der Schlechtigkeit, sondern dies: wir wurden schlecht erzogen und erwarben daher einen dauernden Zustand der Schlechtigkeit. Jeder dauernde Zustand ist erworben, wie gezeigt wurde. Daß die Kräfte von der Natur stammen, ersieht man deutlich daraus: alle Menschen, mit Ausnahme der Verstümmelten, haben dieselben Kräfte. Daß die dauernden Zustände nicht natürlich sind, erhellt daraus: nicht alle Menschen haben dieselben dauernden Zustände, sondern die einen besitzen diese, die andern verschiedene Zustände. Die natürlichen Anlagen sind ja bei allen Menschen die gleichen.
