Kapitel 18: Die Arten der Lust
Von den Arten der Lust sind die einen seelisch, die andern körperlich. Seelischer Art sind die Lustgefühle der Seele selbst, z.B. die Empfindungen der Lust bei der Beschäftigung mit den Wissenschaften und der Forschung. Diese Gefühle und die andern solcher Art sind nur der Seele eigen. Körperlicher Art dagegen sind die Lustgefühle, die mit der Vereinigung des Leibes und der Seele entstehen und deswegen als körperlich bezeichnet werden, z. B. die Lustgefühle, die sich bei den Mahlzeiten und den Handlungen des Geschlechtsverkehrs einstellen. Lustgefühle, die nur dem Leibe eigentümlich sind, findet man wohl nicht; vielmehr Leiden, z. B. Schneidungen, Entleerungen und solche Eigenschaften, die sich aus einer Säftemischung ergeben. Jede Lust ist mit Sinnesempfindung verknüpft. Wir zeigten die Sinnesempfindung als seelischer Art. Es ist offenbar: die Lust gehört zu den Ausdrücken, die vielfältige Bedeutung haben. Sie (die Lust) fällt unter die eine und die andere Gattung, z. B. die edlen und die schlechten Lustempfindungen. Die einen sind falsche, die andren echte Lustgefühle; die einen beruhen nur auf dem Denken und sind geistiger Art, die andren treten am Körper auf und sind sinnlicher Art. Von den sinnlichen Lustgefühlen sind die einen natürlich die andren nicht. Der Lust beim Trinken ist die Betrübnis beim Dürsten entgegengesetzt. Der geistigen Lust steht nichts gegenüber. Alle diese Verhältnisse zeigen „die Lust" S. 67 als mehrdeutiges Wort. Von den sogenannten körperlichen Lustgefühlen sind die einen zugleich notwendig und natürlich, ohne die man nicht leben kann: z. B. gehören dahin die Speisen, die den Mangel im Leib ausfüllen, ferner die notwendigen Kleidungsstücke; die andern körperlichen Lustgefühle sind zwar natürlich, aber nicht notwendig: z. B. die Handlungen in der naturgemäßen und gesetzlich erlaubten Ehe. Die tragen ja zum Fortbestand des ganzen Menschengeschlechtes bei. Man kann auch ohne sie in Jungfräulichkeit leben. Endlich gibt es Lustgefühle, die nicht notwendig und nicht natürlich sind: z. B. die Trunkenheit, die geschlechtliche Ausschweifung, die Habgier und die Unmäßigkeit im Essen und Trinken, die über das Bedürfnis hinausgeht.
Diese Lustgefühle nützen uns nichts zur Fortpflanzung des Geschlechts, wie es die gesetzlich erlaubte Ehe ermöglicht, sie leisten auch nichts für einen festen Zusammenhalt des Lebens; im Gegenteil: sie schaden sogar. Infolgedessen darf, wer in Gott lebt, nur die Lustgefühle erstreben, die zugleich notwendig und natürlich sind. Der Mensch, der hinter dem in Gott lebenden seinen Platz in der zweiten Reihe der Tugenden gefunden hat, muß sich auch um diese Lustgefühle bemühen, die natürlich, aber nicht notwendig sind, und zwar muß er das mit geeignetem Maß, rechter Art, zu passender Zeit und an richtiger Stelle tun. Die andren Lustgefühle sind auf jede Weise zu meiden. Man muß diese einfach für edle Lustgefühle ansehen, denn sie sind nicht mit Betrübnis gemischt, sie verursachen keine Reue, sie erzeugen sonst keinen Schaden, sie überschreiten nicht das erlaubte Maß, sie ziehen uns nicht weit von den ernsten Bestätigungen ab, sie machen uns nicht zu ihren Sklaven. Aber im eigentlichen Sinne gelten nur die als Lustgefühle, die der Erkenntnis der Gottheit, den Wissenschaften und den Tugenden irgendwie innewohnen oder mit ihnen verflochten sind. Diese Lustgefühle müssen wir zu den Dingen zählen, die an erster Stelle zu erstreben sind. Sie wirken nicht zu unserm nackten Dasein, auch nicht zur Fortpflanzung des Menschengeschlechtes mit, vielmehr gestalten sie unser Leben glücklich und machen uns zu trefflichen und gottesfürchtigen Menschen; sie tragen sogar zur seelischen und geistigen Vollendung des Menschen bei; sie heilen nicht gewisse Leiden wie die Lustgefühle, die den Mangel im Leibe ausfüllen, sie enthalten überhaupt keine Betrübnis, die ihnen vorausgegangen ist, nachfolgt oder gegenübersteht. Es sind vielmehr reine Lustgefühle, zudem frei von jeder Mischung mit irdischem Stoff, da sie nur seelischer Art sind.
Nach Platons Ansicht sind bekanntlich die einen Lustgefühle falsch, die andern wahr. Falsch sind alle, die mit Sinnesempfindung sowie mit unwahrem Sinnesurteil wahrgenommen werden und die mit Schmerzerscheinungen der Betrübnis verflochten sind.
Wahr jedoch sind all die Lustgefühle, die nur der Seele selbst S. 68 im Verein mit Wissenschaft, Verstand und Vernunft zu eigen sind; außerdem sind sie rein und ohne Beisatz von Betrübnis, auch folgt ihnen keine einzige Reue jemals auf dem Fuße. Die Lustgefühle, die sich an die Forschung und die edlen Handlungen anschliessen, bezeichnen einige nicht als Leiden, sondern als innere Reizungen. Einige erklären die Lust dieser Art mit besondrem Namen als Freude. Sie beschreiben die Lust als ein sinnlich wahrnehmbares Werden zu dem, was die Natur zu ihrer Ergänzung fordert. Diese Begriffsbestimmung gilt offenbar nur für die körperliche Lust. Diese bedeutet eben eine Stillung des körperlichen Bedürfnisses und eine Heilung der Betrübnis, die sich infolge des Bedürfnisses dazu gesellt hat. Wenn uns beispielsweise friert oder dürstet, so heilen wir die Betrübnis, die aus dem Frost und dem Durst entspringt, auf diese Weise: wir freuen uns bei der Erwärmung und dem Trinken. Diese Lustgefühle sind somit nur zufällig, nicht an sich und nicht von Natur aus gut. So ist z.B. das Gesundwerden nur zufällig ein Gut, während das Gesundsein von Natur und an sich gut ist; ebenso sind auch die Lustgefühle nur zufällig gut, gleichsam als eine Art von Heilmitteln; dagegen sind die Lustgefühle, die in der Forschung ihren Grund haben, an sich und von Natur aus gut; denn sie entstehen nicht infolge eines Bedürfnisses. Hieraus ergibt sich demnach klar: nicht jede Lust stillt das Bedürfnis des Leibes. Ist dies der Fall, so paßt nicht die Begriffsbestimmung in dieser Form: die Lust ist ein sinnlich wahrnehmbares Werden zu dem, was die Natur zu ihrer Ergänzung fordert. Die Begriffsbestimmung umfaßt nicht sämtliche Lustgefühle, sie läßt vielmehr die Lust ausser acht, die aus der Forschung erfliesst. Auch Epikur erklärt die Lust als Aufhebung all dessen, was Betrübnis schafft, und er sagt damit dasselbe wie die Vertreter der Auffassung: die Lust ist ein sinnlich wahrnehmbares Werden zu dem, was die Natur zu ihrer Ergänzung fordert. Lust nennt er die Befreiung von dem, was Betrübnis hervorruft. Nun gibt es aber keine Entstehung die mit ihren eignen Erzeugnissen gleichartig oder verwandt ist; folglich darf man auch nicht die Entstehung der Lust als Lust ansehen, sondern als etwas Andres, das neben der Lust besteht. Im Werden beruht ja die Entstehung. Unter den entstehenden Dingen gibt es keins, das entsteht und gleichzeitig schon fertig entwickelt ist; vielmehr liegt die stückweise Entstehung klar auf der Hand. Was sich jedoch erfreut, das freut sich in seiner Geschlossenheit. Darum ist die Lust keine Entstehung.
Außerdem kommt jede Entstehung nur für das in Betracht, was nicht da ist. Die Lust jedoch erstreckt sich auf die Dinge, die bereits vorhanden sind. Mithin ist die Lust keine Entstehung. Ueberdies bezeichnet man zwar eine Entstehung als schnell und als langsam, aber keine Lust. Ferner stellen die einen Güter eine dauernde Eigenschaft dar, die andren eine Wirksamkeit, die S. 69 weiteren endlich Hilfsmittel. Eine dauernde Eigenschaft ist beispielshalber die Tugend. Eine Wirksamkeit ist z. B. die tugendhafte Handlung. Ferner: eine dauernde Eigenschaft ist das Sehvermögen. Tätigkeit ist das Sehen. Als Werkzeuge, durch die wir unsere Tätigkeit ausüben, dienen z. B. das Auge, der Reichtum und dergleichen Dinge. Alle Seelenvermögen, die sich mit den edlen und den schlechten Dingen beschäftigen, sind Vermögen verschiedener dauernder Eigenschaften. Ist also die Lust ein Gut oder ein Uebel, so wird sie sich nur bei diesen Eigenschaften finden. Aber eine dauernde Eigenschaft ist sie nicht. Sie ist keine dauernde Eigenschaft wie die Tugend; denn dann schlüge sie nicht so leicht in die Betrübnis um, die doch der Lust selbst entgegengesetzt ist. Die Lust ist auch keine Eigenschaft, die der Verneinung entgegensteht. Unmöglich bestehen zu gleicher .Zeit dauernde Eigenschaft und ihre Verneinung. Manche Menschen empfinden allerdings gleichzeitig Lust und Betrübnis, z. B. die Leute, die sich kratzen. Folglich ist die Lust keine dauernde Eigenschaft. Aber sie ist auch kein Werkzeug. Die Werkzeuge sind ja wegen andrer, nicht um ihrer selbst willen da. Die Lust indes ist nicht wegen eines andern, sondern um ihrer selbst willen da; mithin ist sie auch kein Werkzeug, So bleibt nun noch übrig: die Lust ist eine Tätigkeit. Daher beschreibt Aristoteles sie als ungehinderte Tätigkeit der naturgemäßen dauernden Eigenschaft. Die Hindernisse ihrer naturgemäßen Tätigkeit bilden die Betrübnis. Aber auch die Glückseligkeit ist ungehinderte Tätigkeit der naturgemäßen dauernden Eigenschaft. Auf Grund dieser Begriffsbestimmung ergibt sich denn: die Glückseligkeit ist Lust, zugleich ist die Begriffsbestimmung damit zu Fall gebracht. Aristoteles berichtigte nun seine Begriffsbestimmung und erklärte die Lust als Ziel der naturgemäßen ungehinderten Tätigkeiten des Menschen; infolgedessen ist die Lust mit der Glückseligkeit verflochten und bildet eine Einheit mit ihr; andrerseits ist die Glückseligkeit keine Lust. Nicht jede Tätigkeit ist Bewegung; aber es gibt eine Tätigkeit, die sich sogar ohne Bewegung vollzieht: in dieser Tätigkeit wirkt Gott; denn er ist der erste Beweger, der sich nicht bewegt. So äußert sich auch die Tätigkeit der Forschung bei den Menschen: sie geschieht ohne Bewegung. Der Gegenstand der Forschung bleibt eben stets ein und derselbe, auch hat die Denkkraft des Forschers einen festen Stand; dreht sie sich doch beständig um einen und denselben Gegenstand. Die Lust der wissenschaftlichen Forschung ist die größte, eigentlichste und wahre; entsteht sie ohne Bewegung, so ergibt sich deutlich dies: die Lustgefühle aus kleineren Bewegungen sind desto besser und größer, je kleiner die Bewegungen sind. Die Lustgefühle lassen sich zusammen mit den Tätigkeiten nach Arten gliedern. Soviele Arten von Tätigkeiten es gibt, ebensoviele Arten kennt man auch von den Lustgefühlen; zu den edlen S. 70 Tätigkeiten gehören edle, zu den niedrigen dagegen schlechte Lustgefühle. Es ist einleuchtend: für jeden einzelnen Sinn bestehen auch Lustgefühle, die der Art nach verschieden sind. Andre Lustgefühle gehören zum Gefühl und zum Geschmack, andre zum Gesicht, zum Gehör und zum Geruch. Reiner sind allerdings die Lustgefühle all der Sinne, die Lust bereiten, ohne mit den Sinnesgegenständen in unmittelbare Berührung zu kommen; dahin gehören z.B. Gesicht, Gehör und Geruch. Es gibt auch zwei Arten der dianoetischen (= wissenschaftlichen) Tätigkeiten: davon ist die eine praktisch, die andre theoretisch. Damit ist also klar: es gibt auch von den Lustgefühlen zwei Arten, die sich im Gefolge dieser dianoetischen Tätigkeiten zeigen. Unter diesen Arten ist die theoretische reiner als die praktische. Dem Menschen, sofern er Mensch ist, sind die dianoetischen Lustgefühle eigentümlich. Sofern er Lebewesen ist, sind ihm die sinnlichen Lustgefühle auch wie den andren Lebewesen gemeinsam. Nun finden die einen Menschen an diesen, die andren an jenen Lustgefühlen Gefallen; darum sind nicht die Lustgefühle, die den niedrigen Menschen, sondern diejenigen, die den sittlich hochstehenden als edel erscheinen, auch in ihrem Wesen edel. Als der rechte Beurteiler bei jeder Sache gilt nicht jeder beliebige Mensch, sondern nur der Mann, der sie versteht und der seiner natürlichen Veranlagung nach darauf eingestellt ist.
