Kapitel 38: Wie bezeichnet Platon das Schicksal?
Platon gebraucht das Wort „Schicksal" in doppeltem Sinne: das eine ist das substantielle Schicksal, das andre das wirksame Schicksal. Als substantielles bezeichnet er die Seele des Weltalls; unter wirksamem Schicksal versteht er ein göttliches, unverletzliches Gesetz, dem man wegen einer zwingenden Ursache nicht entrinnen kann. Platon nennt dies Gesetz eine Satzung der Unentrinnbarkeit. Dieses Gesetz hat (nach Platons Ansicht) der erste und höchste Gott der Seele des Weltalls zur Verwaltung aller Dinge verliehen; nach diesem Gesetz werden die Dinge in ihrem Entstehen geleitet. Dieses wirksame Schicksal nennt er auch das Schicksal der Vorsehung. Denn von der Vorsehung her empfängt das Schicksal seinen Namen. Alles, was nach dem Schicksal geschieht, entsteht auch gemäß der Vorsehung. Freilich S. 97 ist nicht alles, was der Vorsehung gemäß ist, auch dem Schicksal entsprechend. Das göttliche Gesetz an sich, das nach Platons Bemerkung zugleich Vorsehung und Schicksal ist, umfaßt alle Geschehnisse in sich selbst: die einen gemäß einer bereits vorliegenden, die andren in Beziehung auf eine erst eintretende Bedingung. Die vorausgehenden Ursachen umfaßt das Gesetz gleichsam als gewisse Grundlagen und gemäß einer vorliegenden Bedingung: das sind Dinge, die in unsrer Macht liegen, Zustimmungen, Urteile und Regungen des Triebes. Die Ursachen, die diesen Ursachen notwendigerweise folgen, umfaßt das Gesetz in Beziehung auf eine erst eintretende Bedingung. Die Wahl der Handlung, die in unsrer Macht liegt, besteht gemäß einer bereits vorliegenden Bedingung. Sind die Voraussetzungen erfüllt, die in unsrer Macht liegen, so folgen aus eben diesen wie aus einer erst eintretenden Bedingung die Werke des Schicksals. Zum Beispiel: in unsrer Macht liegt es, zu Schiff zu fahren. Das ist möglich gemäß einer bereits vorliegenden Bedingung. Ist demnach die Voraussetzung erfüllt, daß wir zu Schiff fahren, so folgen weiterhin die Begleiterscheinungen aus dieser erst eintretenden Bedingung: einen Schiffbruch erleiden oder nicht. Deshalb nennt Platon „in Beziehung auf eine erst eintretende Bedingung" die Begleiterscheinungen und die Folge der Voraussetzungen, die in unsrer Macht liegen: d. h.: die Folgen der Grundlagen und der Handlungen. Infolgedessen gibt es einerseits Handlungen, die gemäß einer bereits vorliegenden Bedingung vorausgehen und in unsrer Macht liegen, andrerseits Handlungen, die in Beziehung auf eine erst eintretende Bedingung nachfolgen und nicht in unsrer Macht liegen, sondern zwangsweise geschehen. Das Schicksal ist ja nicht seit ewig bestimmt, sondern es gesellt sich nebenbei zu solchen vorausgegangenen Handlungen, die in unsrer Macht liegen. Mit dieser Ansicht stimmt auch folgende Lehre überein: Schuld trifft nur den, der die Wahl vollzogen hat, Gott ist daran unschuldig; ferner: die Tugend hat keinen Herrn; außerdem: es gibt Weissagungen. Für Platon zielt die ganze Auseinanderlegung darauf hin: die Vorsätze und gewisse vorsätzliche Handlungen liegen in unsrer Macht. Dagegen liegen die Folgen aus diesen Vorsätzen und ihre Endergebnisse notwendigerweise in der Hand des Schicksals. Aber schon oben wurde gezeigt: diese Auffassung (Platons) ist nicht zutreffend.
Soweit Platon das Schicksal als Gottes Anordnung und Willen bezeichnet und das Schicksal der Vorsehung unterordnet, so weicht er nur ein wenig von den göttlichen Worten ab, die versichern: nur die Vorsehung lenkt das Weltall. Aber beträchtlich unterscheidet er sich dadurch, daß er sagt: die Endergebnisse folgen notwendigerweise den Handlungen, die in unserem Willen liegen. Wir lehren z. B.: die Werke der Vorsehung werden nicht gemäß einer strengen Notwendigkeit herbeigeführt, sondern gemäß S. 98 einer Möglichkeit. Werden sie gemäß einer strengen Notwendigkeit herbeigeführt, so wird zunächst der größte Teil des Betens beiseite geworfen; denn nach Platon werden bloß für die Anfänge der Handlungen die Gebetsverrichtungen bestehen, damit wir das Bessere wählen; nach der Wahl jedoch ist das Gebet im übrigen wertlos, da die Folgen durchaus zwangsweise herbeigeführt werden. Wir entscheiden dagegen: auch bei diesen Verhältnissen hat das Gebet die meiste Kraft; denn bei der Vorsehung liegt es, daß der Seefahrer Schiffbruch erleide oder nicht; das eine von beiden geschieht freilich nicht aus einer Notwendigkeit heraus, sondern gemäß einer Möglichkeit. Gott steht nicht unter dem Zwang einer Notwendigkeit, man darf auch nicht sagen: Gottes Wille dient sklavisch dem Zwang. Ist Gott doch Schöpfer des Zwanges! Den Sternen legte er Zwang auf, sodaß sie sich ständig in denselben Bahnen bewegen; das Meer begrenzte er ringsum; den gemeinsamen und den besonderen Dingen gab er eine notwendige Begrenzung. Wir können nichts dagegen sagen, wenn einige (Platoniker) diese Begrenzung deswegen als Schicksal bezeichnen wollen, weil es so ganz und gar gemäß einer strengen Notwendigkeit geschieht, daß alle durch Fortpflanzung erzeugten Wesen zugrunde gehen. Um Worte streiten wir ja nicht mit diesen Forschern. Gott selbst steht nicht allein außerhalb jedes Zwanges, sondern er ist auch Herr und Schöpfer. Er ist die Macht und die Natur der Macht; er tut nichts durch den Zwang der Natur, nichts durch die Satzung des Gesetzes; alle Dinge, auch die notwendigen, sind bei ihm möglich.
Zum Beweis dafür ließ Gott einmal den Lauf der Sonne und des Mondes stille stehen, die sich zwangsmäßig bewegen und stets sich in derselben Lage befinden, um dies zu zeigen: bei ihm geschieht nichts gemäß einer strengen Notwendigkeit, sondern mit seiner Macht entsteht alles gemäß einer Möglichkeit. Nur ein einziges Mal machte er einen solchen Tag, wie ihn sich auch die Schrift aufzeichnete; er tat es, bloß um sich zu offenbaren und um nicht die Satzungen aufzuheben, die er von Anfang an für die notwendige Bewegung der Sterne aufgestellt hatte. So bewahrt er auch einige Menschen am Leben, z. B. Elias und Enoch, die sterblich und dem Untergang unterworfen sind, damit wir durch sie alle seine Macht und seinen von jedem Zwange freien Willen erkennen. Die Stoiker indes erklären: die Planeten kehren zu demselben Himmelszeichen zurück, wo jeder einzelne Planet im Anfang stand, als sich die Welt zum erstenmal zusammensetzte; in bestimmten Zeitumläufen bringen die Planeten Verbrennung und Vernichtung der Dinge zustande; danach tritt die Welt wieder von Grund auf an dieselbe Stelle, und während sich die Sterne wiederum ähnlich drehen, wird jedes einzelne Ding, das in der früheren Zeit entstanden ist, ohne Veränderung hergestellt; es wird dann wieder einen Sokrates und einen Platon geben, jeden S. 99 einzelnen Menschen mit denselben Freunden und Mitbürgern, sie werden dasselbe erleiden, auf dieselben Dinge stoßen, dieselben Gegenstände behandeln; jede Stadt, jedes Dorf und jedes Feld erleben eine ähnliche Erneuerung; die Wiederherstellung des Weltalls erfolgt nicht nur einmal, sondern oft; nein vielmehr bis ins Endlose und unaufhörlich erstehen dieselben Dinge neu; die Götter sind dieser Vernichtung nicht unterworfen, vielmehr nur einem einzigen Zeitraum gefolgt, sie erkennen aus diesem Zeitlauf alles, was sich zukünftig in den aufeinanderfolgenden Zeiten ereignen wird; es wird ja nichts Neues gegenüber dem früher Gewesenen sein, im Gegenteil, alles wird ebenso und unverändert sogar bis in die kleinsten Verhältnisse bestehen. Einige versichern: wegen dieser Wiederherstellung machen sich die Christen Vorstellungen vom Tode. Doch haben sich die Schriftsteller geirrt. Denn die Worte Christi lehren: die Auferstehung wird nur einmal stattfinden und nicht in regelmäßiger Wiederkehr.
