Kapitel 8: Das Gefühl
Jedes einzelne der übrigen Sinneswerkzeuge stellte der Schöpfer in doppelter Anzahl her; er umgrenzte es durch eine örtliche Lage und durch ein Glied am Körper: So machte er z. B. zwei Augen, zwei Ohren und an der Nase zwei Gänge der Sinnesempfindung; auch zwei Zungen setzte er in alle Lebewesen; indes gab er den einen gespaltene Zungen, z. B. den Schlangen; den anderen Lebewesen verlieh er verbundene und vereinigte Zungen, z. B. den Menschen. Deswegen schuf er auch nur die vordern Gehirnhöhlen in zweifacher Zahl, damit die Nerven der Sinnesempfindung, die aus jeder der beiden Höhlen herablaufen, die Sinneswerkzeuge in doppelter Anzahl bilden. Er schuf sie aus übergroßer Sorgfalt in zweifacher Anzahl: im Falle der Erkrankung des einen Teils sollte der übrigbleibende die Empfindung bewahren. Allerdings erleidet das Lebewesen in keiner Weise Schaden am Leben selbst, wenn die meisten Sinneswerkzeuge dem Verderben verfallen; bei Verlust des Gefühls jedoch geht auch das Lebewesen mit zugrunde. Das Gefühl ist der einzige der Sinne, der sämtlichen Lebewesen gemeinsam zukommt. Jedes Lebewesen hat Gefühl. Alle Lebewesen besitzen nicht die sämtlichen Sinne, vielmehr haben einige Wesen nur mehrere Sinne. Bloß die vollkommeneren Lebewesen besitzen alle Sinne. In diesem Punkte stand also das Lebewesen vor der entscheidenden Wahl: Lebewesen oder nicht zu sein; deshalb wies der Schöpfer dem Gefühl nicht einen Teil, sondern fast den ganzen Körper des Lebewesens zu. Mit Ausnahme von Knochen, Nägeln, Hörnern, Bändern, Haaren und einigen andren Dingen solcher Art beteiligt sich jeder S. 56 Körperteil am Gefühl. Die Folge ist demnach die: jedes einzelne Sinneswerkzeug hat eine doppelte Wahrnehmung: erstens die Wahrnehmung der ihm eigentümlichen Sinnendinge, zweitens die Gefühlsempfindung; vergleiche z. B. das Gesicht. Es unterscheidet die Farben; es nimmt auch die Wärme und Kälte wahr; indessen empfindet das Gesicht nur als Körper diese Erscheinungen; die Farben hingegen sieht es als Gesicht. Ebenso verhalten sich auch der Geschmack, der Geruch und das Gehör.
Inwiefern erstreckt sich danach das Gefühl über den gesamten Leib, wenn wir behaupten: die Sinnesempfindungen stammen von den vorderen Gehirnhöhlen? Ist es klar, daß die Gefühlsempfindung, hinzutritt, wenn die Nerven aus dem Gehirn herunterlaufen und sich in jeden Körperteil verbreiten? Wenn wir von einem Dorn am Fuß verletzt worden sind, so strecken sich uns am Kopf sogleich die Haare in die Höhe; daher glaubten einige Gelehrte: der Schmerz oder die Empfindung des Schmerzes dringt bis ins Gehirn, auf diese Art empfindet der Mensch. Aber wäre diese Ansicht richtig, so litte nicht der geschnittene Teil, sondern das Gehirn. Man drückt sich daher besser so aus: der Nerv bildet das Gehirn. Er ist ein Teil des Gehirns, in sich selbst enthält er durch und durch den Lebenshauch, so wie das glühende Eisen das Feuer in sich birgt. Deswegen wird eben der Teil, wo jedesmal ein Empfindungsnerv eingepflanzt ist, durch diesen Nerv Teilhaber an der Empfindung und empfindungsfähig. Die Behauptung ist wohl nicht ganz unsinnig: zum Anfang der Nerven leitet sich das Gehirn hinauf, nicht der Schmerz, vielmehr nur eine Art Mitempfindung und Mitteilung des Schmerzes. Der eigene Sinnesgegenstand des Gefühls ist das Warme und Kalte, das Weiche und Rauhe, das Klebrige und Harte, das Schwere und Leichte. Bloß durch das Gefühl lassen sich diese Eigenschaften erkennen. Für Gefühl und Gesicht gemeinsame Beschaffenheiten sind folgende: das Scharfe und Stumpfe, das Rauhe und Glatte, das Trockene und Feuchte, das Dicke und Dünne, das Oben und Unten. Auch die örtliche Lage und die Größe unterstehen dem Gefühl, wenn sie so geartet ist, daß man sie durch einen einzigen Angriff des Gefühls erfaßt, desgleichen das Dichte, das Dünne und das Runde, sofern es klein ist; ebenso noch einige andere Formen. Aehnlich nimmt das Gefühl mit dem Gedächtnis und dem Denken auch die Bewegung des Körpers wahr, der sich ihm (dem Gefühle) nähert. Genau so stellt das Gefühl auch eine Zahl fest, aber nur bis zu zwei oder drei, denn diese Zahlen sind klein und leicht erfaßbar. In höherem Grade als das Gefühl nimmt das Gesicht diese Zahlen entgegen in gleicher Weise wie es das Ebene und Unebene erfaßt. Diese Eigenschaften gehören nämlich zur Gattung des Rauhen und Glatten. Unebenheit, die sich mit Härte gemischt hat, ergibt Rauheit; dagegen erzeugt Ebenheit in Verbindung mit Dichtigkeit Glätte. S. 57 Aus den Darlegungen ersieht man demnach: diese Sinne haben viele Gemeinschaft miteinander. Der eine Sinn offenbart die Fehler des andren. Auf dem Bilde z. B. sieht das Gesicht verschiedene Teile, die hervorstehen: die Nase und die sonstigen Glieder; das Tastgefühl kam dazu und widerlegte den Irrtum des Gesichtes. Das Gesicht sieht zu jeder Zeit und alle Dinge vermittels der Luft; entsprechend nimmt auch das Tastgefühl mit dem Stock das Harte, Weiche sowie das Feuchte wahr, jedoch nur durch ein Schlußverfahren und mit Hilfe des Denkens. Diesen Sinn besitzt der Mensch in besonders feiner Schärfe. Er übertrifft daher mit diesem Tastgefühl und mit dem Geschmack die anderen Lebewesen; dagegen steht er mit den drei übrigen Sinnen zurück. Ein Tier übertrifft mit diesem Sinn, ein andres mit einem verschiedenen von den drei Sinnen den Menschen. Der Hund überragt ihn gleichzeitig in diesen drei Sinnen: er hört, sieht und riecht schärfer; das beobachtet man deutlich an den Spürhunden. Der ganze Körper ist ein Sinneswerkzeug des Tastgefühls; so ist es schon früher gesagt worden. Vor allem dienen dabei die Innenflächen der Hände und an ihnen noch mehr die Fingerspitzen; diese haben wir als zuverlässige Wegweiser des Tastgefühls. Der Schöpfer hat die Hände nicht allein als Werkzeug zum Greifen, sondern auch zum Tasten eingerichtet; deswegen haben die Hände auch dünnere Haut. Der Muskel ist auf der Innenfläche über die ganzen Hände ausgebreitet, Sie sind unbehaart, um noch mehr die greifbaren Gegenstände zu erfassen. Das hat der untergebreitete Muskel verursacht, daß die Hände keine Haare wachsen lassen. Die härteren Hände sind kräftiger zum Greifen; die weicheren sind feiner zum Fühlen eingerichtet; ebenso sind auch die harten Nerven mehr zur Bewegung, die weichen mehr zur Empfindung geeignet. Diese Nerven dienen auch für das Tastgefühl als Werkzeuge; durch sie wird die Wahrnehmung des Tastgefühls begründet.
