Kapitel 13: Das Gedächtnis
S. 60 Das Gedächtnis ist Ursache und Schatzkammer der Erinnerung. Die Erinnerung ist nach der Behauptung des Aristoteles eine Vorstellung, die von einer wirklichen Sinnesempfindung in der Seele hinterlassen wurde; nach Platons Auffassung ist die Erinnerung die Erhaltung der Sinnesempfindung wie des Gedankens. Die Seele nimmt die Sinnendinge durch die Sinneswerkzeuge wahr; so kommt das Sinnesurteil zustande; die Gedankendinge erfaßt die Seele durch den Verstand; so vollzieht sich das Denken. Bewahrt die Seele die Eindrücke der Gegenstände, die sie sinnlich und geistig erfaßte, so sagt man von ihr: sie erinnert sich. An dieser Stelle bezeichnet Platon offenbar nicht das eigentliche Denken, sondern das Nachdenken. Die Sinnendinge bleiben ja an sich in der Erinnerung haften, die Gedankendinge dagegen nur zufälligerweise; denn auch die Erinnerung an die Gedankendinge entsteht aus einer vorangegangenen Vorstellung. Daß wir die eigentlichen Gedankendinge einmal kennengelernt oder erfahren haben, dessen erinnern wir uns. Aber an ihre Wesenheit haben wir keine Erinnerung. Denn die Aufnahme der Gedankendinge geschieht nicht auf Grund einer vorherigen Vorstellung, sondern durch Lernen oder einen angeborenen Gedanken. Wenn es heißt: wir erinnern uns an die Dinge, die wir früher gesehen, gehört oder sonstwie kennen gelernt haben — „früher" bezieht sich auf die Vergangenheit — dann ist es klar: die Dinge, die entstehen und vergehen, bleiben in der Erinnerung haften, sofern sie zeitlich Zusammenhängen. Zwar erstreckt sich die Erinnerung auf die abwesenden Dinge, aber sie wird nicht von ihnen erzeugt. Von Wiedererinnerung jedoch ist dann die Rede, wenn Vergessen die Erinnerung mitten unterbrochen hat.
Wiedererinnerung bedeutet Wiedergewinnung entschwundener Erinnerung. Durch das Vergessen geht Erinnerung verloren. Vergessen heißt Erinnerungsverlust. Das eine Vergessen ist dauernd, das andre währt nur eine gewisse Zeit; zu diesem Vergessen gehört die Wiedererinnerung. Es gibt noch eine andere Wiedererinnerung; sie ist kein Vergessen der Eindrücke, die von einer Sinnesempfindung oder vom Denken stammen, sondern ein Vergessen der angeborenen Gedanken. Als angeborene Gedanken bezeichnen wir solche, die nicht erlernt, doch allen Menschen eigen sind, z . B . das Dasein Gottes. Dies ist nach Platons Lehre die Wiedererinnerung der Ideen. Das Wesen der Idee werden wir im folgenden erklären. Das Vorstellungsvermögen übermittelt also dem Denkvermögen die sinnlichen Wahrnehmungen. Das Denk- oder Unterscheidungsvermögen sendet, nach Empfang und Sonderung der Wahrnehmungen diese weiter zum Gedächtnis. S. 61 Als Werkzeug dient diesem Gedächtnis die hinterste Gehirnkammer, die man auch Nebengehirn und Nebenschädel nennt, und der seelische Hauchstoff im Gehirn. Wir behaupten: die Grundlagen und Wurzeln für die Sinnesempfindungen sind die vorderen Gehirnhöhlen, für das Denkvermögen die mittlere und für das Gedächtnis die hintere Gehirnhöhle; deshalb müssen wir zeigen, ob sich diese Einteilungen so verhalten, um nicht den Schein zu erwecken, prüfungslos den Lehrmeinungen zu glauben.
Am besten eignet sich hierfür der Beweis, der unmittelbar aus der Tätigkeit der Glieder entnommen wird. Sind z. B. die vorderen Gehirnhöhlen auf alle mögliche Art und Weise beschädigt, so werden dadurch die Sinnesempfindungen verhindert, aber das Denkvermögen bleibt noch erhalten. Leidet nur die mittlere Gehirnhöhle, so wird zwar das Denken erschüttert, aber die Sinneswerkzeuge bleiben bestehen und bewahren die von der Natur verliehene Empfindung. Sind die vorderen Gehirnhöhlen und die mittlere erkrankt, so wird das Ueberlegen zusammen mit den Sinnesempfindungen verwirrt. Leidet das Nebengehirn, dann geht bloß die Erinnerung verloren, während die Sinnesempfindung und das Denken keinen Schaden erleiden. Wenn mit den vorderen Gehirnhöhlen die mittlere und die hintere irgendwie leiden, so werden gleichzeitig die Sinnesempfindung, das Denken und die Erinnerung vernichtet; dazu tritt noch die Gefahr, daß sogar der ganze Mensch zugrunde geht. Das wird durch viele andre Leiden und Krankheitserscheinungen, vor allem aber am Irrsinn klar. Denn die einen unter den Geisteskranken bewahren ihre Sinnesempfindungen, indes nur ihr Denken beschädigt ist. Einen solchen Irrsinnigen beschreibt Galen. Ein Wollarbeiter war bei diesem Geisteskranken beschäftigt. Da stand der Irrsinnige auf, nahm Glasgefäße, ging ans Fenster und fragte die Vorübergehenden unter namentlicher Nennung jedes einzelnen Gefäßes, ob sie es heruntergeworfen sehen wollten. Als die Leute stehen blieben und „ja" sagten, warf er zunächst jedes einzelne Gefäß hinab. Dann fragte er die Anwesenden, ob sie auch den Wollarbeiter heruntergestürzt haben wollten. Die Leute hielten die Sache nur für einen Scherz, darum erklärten sie ihre Einwilligung. Er packte darauf den Wollarbeiter und stieß ihn von oben hinab in die Tiefe. Dieser Irrsinnige hatte zwar gesunde Sinne; wußte er doch: das sind Gefäße, und: das ist der Wollarbeiter. Aber des Mannes Denken war krank. Andere Geisteskranke zerren umsonst eine Vorstellung herbei, weil sie glauben, solche Dinge zu sehen, die man sonst nicht sieht; im übrigen denken sie vernünftig. Diese Menschen sind bloß an den vorderen Gehirnhöhlen beschädigt, während die mittlere Höhle unversehrt bleibt. Infolge der Krankheiten, die sich jedem Glied anheften, werden seine (des Gliedes) Tätigkeiten gehindert. Einen Schaden erleidet ja der Mensch hinsichtlich der Tätigkeit, die das erkrankte Glied S. 62 von Natur ausübt; z. B. sind wir auch dann, wenn der Fuß leidend ist, am Gehen verhindert. Diese Tätigkeit übt gerade der Fuß aus.
