Kapitel 36: Das Schicksal, das die Sterne bestimmen
S. 94 Die weisen Aegypter erklären: das Schicksal, das die Sterne bestimmen, ist wahr; es läßt sich durch Gebete und Sühnopfer abwenden; es gibt verschiedene Verehrungen dieser selben Sterne, die besänftigend auf die Sterne wirken; ferner bestehen noch einige andre Kräfte höheren Ranges, die imstande sind, die Sterne zu drehen; deswegen hat man die Gebete, die Götterverehrungen und die Sühnopfer erdacht. Gegen diese Weisen werden wir einwenden: sie nehmen das Schicksal der zufälligen und nicht der notwendigen Dinge an; das Zufällige ist unbegrenzt; das Unbegrenzte ist unbekannt. Dadurch wird folglich die ganze Wahrsagekunst aufgehoben, vor allem die Kunst der sogenannten Geburtstagsdeuter: diese (letztere) Kunst achten sie selbst gegenüber den andren Künsten als zuverlässiges und wahrhaftiges Gewerbe hoch. Behaupten diese Aegypter: die Wirklagen der Sternbilder sind deutlich zu sehen, so werden sie auch von den Kundigen erkannt. Kommt indes das Sternbild nicht aus seiner eigenen Kraft hervor, so war jedesmal Gott der Hinderungsgrund. Wir werden erwidern: auch das ist Unsinn. Erstens ist es deshalb Unsinn, weil sie nur das Gebet und die Götterverehrung, sonst aber nichts in unsre Macht setzen. Sodann werden wir uns mit den Aegyptern darüber auseinandersetzen: wie kommt es, daß nur das Gebet in unserer Macht liegt, während alle andern menschlichen Handlungen und Vorsätze in dem Sternenbild von unbestimmter Beschaffenheit ruhen? Es ist doch ein Rätsel, aus welchem Grund dies sich so verhält, ferner: welches der Zwang ist.
Außerdem: falls es eine Kunst und Unterweisung bezüglich der Sühnopfer gibt, die die nichtschicksalshaften Einflüsse verhindert, können denn alle Menschen zu der Unterweisung gelangen oder nur manche, andere jedoch nicht? Können alle zu ihr gelangen, so steht nichts im Wege, daß sich aus diesem Grunde das Schicksal völlig umkehrt, nachdem alle die Kunst erlernt haben, die die Wirkungen des Schicksals verhindert. Vermögen jedoch nur einige zu der Unterweisung zu gelangen, andre nicht, was für Leute sind das sonach? Wer trifft die Entscheidung über diese Frage? Wenn das Schicksal selbst die einen zu Verehrern der Gottheit macht, die andern nicht, so wird man wiederum finden: alles geschieht nach dem Schicksal. Soviel ist jetzt klar geworden: das Gebet und die Verehrung: die einzigen Dinge, die in unserer Macht liegen, sind nicht geringer als das Schicksal, sondern noch grösser. Ist nicht das Schicksal, sondern etwas Andres die Ursache dieser Vorgänge (des Gebetes und der Verehrung), dann wird vielmehr eben dieses Andre als Schicksal erscheinen. Denn darin, daß man imstande oder nicht imstande S. 95 ist, eine Arbeit durch Gebet richtig auszuführen, beruht des Schicksals ganze Kraft. Bei solchen Menschen, die dazu imstande sind, richtet das Schicksal nichts aus; bei denen, die nicht imstande sind, geschieht alles nach dem Schicksal. Man wird in der Tat finden: bei einigen Menschen geschieht alles, bei andren nichts nach dem Schicksal. Es ist klar: wer dies bestimmt, der ist selbst das eigentlichste Schicksal; so wird man wiederum feststellen: alles geschieht nach dem Schicksal, außerdem ist der Verteiler (des Schicksals) auch ungerecht, mag er ein Geist oder sonst eine Art Schicksal sein. Er verteilt unter die Menschen nicht in gebührender Art die Unterweisung in der Götterverehrung. Warum ist denn dieser würdiger als jener, während sie alle Werkzeuge des Schicksals sind, niemand zu dem etwas aus eigenem Vorsatz tut, vielmehr überhaupt nicht einen Vorsatz faßt? Unter derartigen Verhältnissen gibt es keinen Gerechten und keinen Ungerechten; folglich ist niemand einer Gnade würdig oder unwürdig. Wer jedoch den gleichen Menschen ungleiche Teile zuweist, der ist ungerecht.
