Kapitel 33: Die Vorsätzlichkeit
Was ist also die Vorsätzlichkeit? Etwa die freiwillige Handlung, da ja alle vorsätzliche Handlung auch freiwillig ist? Aber die Umkehrung des Satzes trifft nicht zu: das wäre erst dann der Fall, wenn freiwillige Handlung und S. 88 Vorsätzlichkeit dasselbe bedeuteten. Nun finden wir aber die freiwillige Handlung in größerem Umfang vor. Denn jede Vorsätzlichkeit ist freiwillig, aber nicht jede freiwillige Handlung beruht auf Vorsätzlichkeit. Die kleinen Kinder z. B. und die vernunftlosen Tiere handeln zwar freiwillig, aber wahrhaftig nicht mit Vorsätzlichkeit. Alles, was wir im Zorn ohne vorherige Ueberlegung ausführen, das tun wir freiwillig, aber nicht auch vorsätzlich. Freilich handelte auch der Freund, der uns plötzlich besuchte, freiwillig; infolgedessen freuten wir uns; aber er besuchte uns nicht vorsätzlich. Ferner: wer einen Schatz unerwartet fand, machte freiwillig, aber nicht vorsätzlich einen unerhofften Gewinn. Aus allen Beispielen folgt daher der Schluß: die freiwillige Handlung ist nicht dasselbe wie die Vorsätzlichkeit. Ist die Vorsätzlichkeit demnach ein Streben? Nein, auch das ist sie nicht. Zerfällt doch das Streben in drei Teile: in Begierde, Zorn und Wollen. Daß die Vorsätzlichkeit kein Zorn und keine Begierde ist, ersieht man deutlich aus folgendem: die Menschen haben mit den vernunftlosen Tieren nicht die Vorsätzlichkeit, sondern die Begierde und den Zorn gemeinsam. Haben wir mit den Tieren die beiden Teile (Zorn und Begierde) gemeinsam, unterscheiden wir uns hingegen durch die Vorsätzlichkeit, so ergibt sich klar: etwas Andres ist die Vorsätzlichkeit, etwas Andres der Zorn und die Begierde. Das offenbart auch der Unenthaltsame; er läßt sich von der Begierde überwältigen und handelt nach ihr, aber nicht vorsätzlich. Bei diesem Menschen widerstreitet die Vorsätzlichkeit der Begierde. Wären sie dasselbe, so lägen sie nicht miteinander im Kampfe. Der Enthaltsame dagegen handelt, wenn er sich vorsätzlich betätigt, nicht aus Begierde. Daraus folgt: die Vorsätzlichkeit ist auch kein Wollen. Nicht für alle die Verhältnisse, in denen das vorsätzliche Handeln am Platze ist, passt auch das Wollen.
Wir sagen z. B.: wir wollen gesund sein; aber es sagt kein Mensch: er nimmt sich vor, gesund zu sein. Auch sagt man: wir wollen reich sein; aber man sagt nicht mehr: wir nehmen uns vor, reich zu sein. Ferner: das Wollen hat auch bei solchen Verhältnissen seinen Platz, die unmöglich auszuführen sind; aber das vorsätzliche Handeln paßt bloß bei den Dingen, über die wir Macht haben. So drücken wir uns gewiß aus: ich will unsterblich werden; aber wir sagen nicht: ich nehme mir vor, unsterblich zu werden. Das Wollen erstreckt sich eben aufs Ziel. Die Vorsätzlichkeit indes befaßt sich mit den Mitteln, die zum Ziele führen. Das Wollen verhält sich zur Vorsätzlichkeit ebenso wie das Gewollte zum Ueberlegten. Gewollt ist das Ziel. Ueberlegt sind die Mittel, die zum Ziele führen. Ueberdies nehmen wir uns nur das vor, was nach unsrer Ansicht durch uns verwirklicht werden kann. Andrerseits wollen wir auch das, was nicht durch uns möglich ist, z. B. den Sieg eines Feldherrn. S. 89 Damit ist also hinreichend bewiesen: die Vorsätzlichkeit ist kein Zorn, keine Begierde und kein Wollen. Daß die Vorsätzlichkeit auch kein Sinnenurteil ist, wird durch dieselben und durch andre Beweise ersichtlich. Das Sinnenurteil bezieht sich nicht bloß auf solche Dinge, die in unsrer Macht liegen, sondern auch auf die unsichtbaren. Außerdem: ein Sinnenurteil bezeichnen wir als wahr und als falsch; einen Vorsatz (eine Vorsätzlichkeit) nennen wir nicht wahr und falsch. Das Sinnenurteil beschäftigt sich mit den allgemeinen, die Vorsätzlichkeit mit den einzelnen Dingen. Die Vorsätzlichkeit befaßt sich mit den Dingen, die man ausführen kann; dies sind die einzelnen Dinge. Aber die Vorsätzlichkeit ist auch keine Ueberlegung wie ein Rat. Die Ueberlegung ist eine Untersuchung über die Dinge, die man ausführen kann. Man kann sich das vornehmen, was infolge der Ueberlegung vorher entschieden ist. Daraus folgt klar: die Ueberlegung bezieht sich auf die Dinge, die noch untersucht werden; die Vorsätzlichkeit gilt für die Dinge, die schon vorher entschieden sind. Was demnach die Vorsätzlichkeit nicht ist, hat die Darlegung ergeben. Was sie tatsächlich ist, wollen wir jetzt mitteilen.
Die Vorsätzlichkeit ist also eine Mischung aus Beratung, Urteil und Streben. Sie ist kein Streben an sich, kein Urteil und keine Beratung ausschließlich, sondern eine Zusammensetzung aus diesen Teilen. Wir sagen z. B.: der Mensch ist aus Seele und Leib zusammengesetzt, er ist nicht bloß Seele, sondern die Verbindung aus beiden (Seele und Leib): ebenso ist auch die Vorsätzlichkeit zusammengesetzt. Schon aus der Erklärung der Grundbedeutung des Wortes ist offensichtlich: die Vorsätzlichkeit ist eine Art Beratung und Ueberlegung mit Beurteilung, wenn auch keine Beratung an sich. Das Wort: „mit Vorzug wählbar" bedeutet: man kann das eine vor dem andern nehmen. Niemand trifft ohne vorherige Beratung eine Entscheidung, niemand wählt ohne vorausgegangenes Urteil. Nicht alles, was uns gut zu sein scheint, beabsichtigen wir, in die Tat umzusetzen; da tritt dann der Vorsatz in Wirksamkeit, und man kann sich das wählen, was man auf Grund der Beratung vorher entschieden hat, wenn man noch das Streben dazugenommen hat. Notwendigerweise umfaßt demzufolge der Vorsatz dieselben Gegenstände wie auch die Beratung. Daraus folgt denn der Schluß: der Vorsatz ist ein überlegtes Streben nach dem, was in unsrer Macht liegt. Wir handeln vorsätzlich, wenn wir nach dem verlangen, was wir infolge der Beratung vorher entschieden haben. Wir hatten gesagt: der Vorsatz umfaßt dieselben Gegenstände wie auch die Beratung; darum wollen wir auseinandersetzen, welche Dinge die Beratung umspannt und worüber wir beratschlagen.,
