Kapitel 20: Die Furcht
Auch die Furcht gliedert sich in sechs Arten: in Scheu, Schamgefühl, Beschämung, Schrecken, Bestürzung und in Mutlosigkeit. Scheu ist Furcht vor einer zukünftigen Tätigkeit. Schrecken ist Furcht infolge einer gewaltigen Erscheinung, Bestürzung ist Furcht infolge einer ungewöhnlichen Erscheinung. Mutlosigkeit ist Furcht vor einem Fall, das heißt: vor einem Mißerfolg; denn aus Furcht, keinen Erfolg zu erzielen, sind wir mutlos. Schamgefühl ist Furcht vor einem Tadel, der zu erwarten ist; das ist der schönste Affekt. Beschämung ist Furcht wegen einer vollendeten schändlichen Tat. Auch dieser Affekt gestattet noch Aussicht auf Rettung des Uebeltäters. Dadurch unterscheidet sich Schamgefühl von Beschämung: der Mensch im Affekt der Beschämung verbirgt sich wegen seiner Tat, im Affekt des Schamgefühls fürchtet der Mensch, in einen schlechten Ruf zu kommen. Die alten Schriftsteller bezeichnen unter Mißbrauch der Ausdrücke häufig das Schamgefühl als Beschämung und die Beschämung als Schamgefühl. Die Furcht entsteht durch Abkühlung, indem alle Wärme zum Herzen strömt, zum herrschenden Teil: so flieht auch das Volk, wenn es sich fürchtet, zu seinen Führern. Als Organ der Betrübnis dient die Mündung der Leibesöffnung. Das ist das Glied, das bei den Betrübnissen den Biß empfindet. So berichtet Galenos etwa folgendermaßen im dritten Buch der „Wissenschaft vom Beweis": „Den Leuten, die betrübt sind, fließt nicht wenig gelbe Galle in den Unterleib; diese Galle verursacht ihnen das Beißen; sie werden nicht eher von der Betrübnis und vom Beißen befreit, als bis sie die Galle durch Erbrechen ausgeworfen haben." Dieses Beißen geschieht bei den Kranken unterhalb des mittleren Brustknorpels, der „schwertähnlich" heißt. Viel höher liegt die Leibesöffnung. Der Unterleib liegt tiefer, die Leibesöffnung höher als das Zwerchfell. Gewöhnlich nennen die alten Schriftsteller auch die S. 72 Mündung des Unterleibes „Herz", z. B. Hippokrates, auch Thukydides gebraucht das Wort, indem er bei der Pest folgendermaßen sich äußert: „Sooft der Schmerz sich in die Leibesöffnung (d. h. in das Herz) bohrte, drehte er sie um, dann drangen sämtliche Gallabsonderungen, soweit sie von Aerzten benannt sind, in die Leibesöffnung (d. h. in das Herz)." Was sich umdreht, wenn man brechen muß, ist die Mündung des Unterleibs, nicht der Teil der Eingeweide: nicht das Herz.
