Kapitel 40: Gewisse Dinge liegen in unsrer Macht
Es ist hinreichend bewiesen worden: gewisse Dinge liegen in unsrer Macht; ferner: wir sind über gewisse Handlungen Herr. Nun wollen wir mitteilen, welche Dinge in unsrer Macht liegen. Wir drücken uns allgemein also aus: alles, was wir freiwillig ausführen, liegt in unsrer Macht. Man hätte nicht sagen dürfen: etwas wird freiwillig ausgeführt, wenn die Handlung nicht in unsrer Macht läge. Um es einfach zu sagen: in unsrer Macht liegen die Dinge, denen ein Tadel oder ein Lob folgt, und solche Dinge, worüber sich eine Aufforderung oder ein Gesetz erstreckt; auch das wurde in den obigen Ausführungen gezeigt. Im besondren jedoch liegen alle seelischen Vorgänge in unsrer Macht, ebenso die Gegenstände unsrer Ueberlegungen. Wir überlegen, da es ja in unsrer Macht liegt, das auszuführen oder nicht, was uns als Aufgabe gesetzt ist. In den früheren Darlegungen wurde nachgewiesen: die Beratung umfaßt die Dinge, die nach beiden Seiten möglich sind. Das nach beiden Seiten Mögliche ist gerade das, was wir können und das Gegenteil dazu. Die Wahl dieses nach beiden Seiten Möglichen vollzieht unser Verstand, dieser ist die Grundlage der Handlung. Diese Dinge, S. 102 die nach beiden Seiten möglich sind, liegen in unsrer Macht; z. B. sich bewegen und sich nicht bewegen, streben und nicht streben, nach den unnötigen Dingen begehren und nicht begehren, lügen und nicht lügen, geben und nicht geben, sich freuen über Dinge, bei denen man sich freuen muß, und sich nicht freuen; überhaupt alle derartigen Handlungen, bei denen die Werke der Schlechtigkeit und die der Tugend gegenüberstehen. Darüber verfügen wir mit freiem Willen. Zu den Dingen, die nach beiden Seiten möglich sind, gehören auch die Künste. Denn jede Kunst sucht solche Dinge zu schaffen, die sein wie nicht sein können, und deren Grundlage im Künstler, aber nicht im erschaffenen Werke liegt. Nichts Unvergängliches und kein Ding, das infolge eines Zwanges besteht oder entsteht, wird, wie man sagt, kunstgemäß erschaffen; aber auch keins von den Dingen, die auch anders sein können und in sich selbst die bewirkende Ursache tragen, wie es z. B. bei den Tieren und Pflanzen zutrifft, wird kunstgemäß erschaffen, wie man sagt. Sie werden durch die Natur und nicht durch die Kunst erschaffen. Liegt jedoch die bewirkende Ursache der kunstgemäß erschaffenen Dinge außerhalb, wer anders also ist dann die Ursache der kunstgemäß erschaffenen Dinge als der schaffende Künstler? Im Künstler wohnt ja das Schaffen. Dieser ist mithin Grundlage und Ursache der Handlungen.
In unsrer Hand liegen demnach die künstlerischen Betätigungen, die Tugenden sowie alle Handlungen der Seele und der Vernunft. In den früheren Ausführungen ward gezeigt, wie seelische Tätigkeiten beschaffen sind. Die meisten Gelehrten glauben: der freie Wille wird von jeder Handlung, jedem Erwerb und jedem Glücksfall ausgesagt — sie lehnen daher natürlich die Lehre vom freien Willen ab. Die schärferen Gegner bringen sogar den Satz der Schrift zur Widerlegung vor: „Nicht in der Gewalt des Menschen sind seine Wege" und bemerken: Ihr guten Leute! Inwiefern hat der Mensch freien Willen, wenn er keine Macht über seinen Weg hat und wenn es heißt: „Töricht die Gespräche der Menschen", da wir doch das, was wir denken, nicht ins Werk zu setzen vermögen? Vieles dieser Art sagen sie, ohne zu wissen, wie der freie Wille bezeichnet wird. Wir haben nicht darüber Macht: reich oder arm, immerfort gesund, von Natur kräftig gebaut zu sein, überhaupt über die Güter, die als Hilfsmittel dienen, über die sogenannten Glücksgüter oder über die Dinge zu herrschen, deren Ziel die Vorsehung bestimmt. Dagegen haben wir Macht über die tugendhaften und schlechten Handlungen, über Vorsätze, Bewegungen sowie über solche Dinge, bei denen wir in gleicher Weise auch ihre Gegenteile ausführen können; geht doch jeder Handlung ein Vorsatz vorauf. Nicht nur die Handlung, sondern auch der Vorsatz unterliegt der Strafe. Das verdeutlicht der Satz im Evangelium : „Wer auf ein Weib gesehen hat, um es zum Verkehr zu begehren, hat in seinem Herzen das Weib schon mißbraucht." S. 103 Job brachte Gott zur Sühne für die Gedankensünden seiner Söhne Opfer dar. Den Anfang der Verfehlungen wie der gerechten Handlung bildet der Vorsatz. Die Vorsehung läßt das Werk bald zu, bald verhindert sie es. Da das, was in unsrer Macht liegt, und die Vorsehung besteht, so müssen die Dinge in ihrem Entstehen durch beide Kräfte (durch das, was in unsrer Macht liegt, und durch die Vorsehung) geschaffen werden. Würden die Dinge nur durch die eine Kraft geschaffen, so wäre die andre Kraft nicht da. Nun sind die Dinge in ihrem Entstehen gemischt, deshalb werden sie bald von dem ausgehen, was in unsrer Macht liegt, bald von dem Gedanken der Vorsehung, bald von beiden Kräften zusammen.
Die Vorsehung tritt bald allgemein, bald im besondern hervor. Daher müssen die einzelnen Dinge Aehnliches wie die allgemeinen erleiden. Ist z. B. die Luft ringsum trocken, so vertrocknen die Körper, wenn auch nicht alle auf ähnliche Weise. Hat eine Mutter keine richtige Lebensführung beobachtet und sich der Ausschweifung ergeben, so gebiert sie folgerichtig ihre Kinder mit Leibern, die schlecht gemischt sind, und mit verkehrten Trieben. Diese Darlegungen ergeben somit klar: es kommt vor, daß den Kindern auch keine glückliche Körpermischung zuteil wird, entweder durch ihren gemeinsamen Anteil an der Lust, infolge einer freiwilligen Lebensweise der Eltern oder daher, daß sich eben jene Eltern durch Ausschweifung zugrunde gerichtet haben; infolgedessen gestaltet man aus freiwilligem Anlaß die Mischung zuweilen schlecht, jedenfalls ist nicht die Vorsehung an derartigen Verhältnissen schuld. Ergibt sich demnach die Seele, die der Körpermischung unterworfen ist, Begierden oder Zornausbrüchen, läßt sie sich ferner von den Glücksgütern, z. B. von Armut oder Reichtum, niederdrücken oder erschlaffen, so unterzieht sie sich einem freiwilligen Uebel. Wenn die Seele der Körpermischung nicht unterworfen ist, so verbessert und besiegt sie die schlechte Mischung; daher ändert sie eher, als daß sie sich ändern läßt; sie setzt die vorübergehenden Seelenzustände durch treffliche Leitung und passende Lebensweise in eine gute Dauerverfassung. Aus dem Verhalten der Leute, die ihre Körpermischung verbessern, folgt somit deutlich: die Leute, die ihre Körpermischung nicht verbessern, vergehen sich freiwillig. Denn in unsrer Macht liegt es, sich den schlechten Körpermischungen hinzugeben oder ihnen entgegenzutreten und darüber Herr zu werden. Aber die meisten Menschen schützen die schlechte Körpermischung als Ursache ihrer Leidenschaften vor, deswegen schreiben sie dem Zwang und nicht dem Vorsatz ihre Schlechtigheit zu; darum erklären sie außerdem: auch die Tugenden liegen nicht in unsrer Macht — eine törichte Behauptung!
