Zweiter Artikel. Leben und sein Verhältnis zum Thätigsein.
a) Leben scheint nicht Thätigkeit zu sein. Denn: I. Nichts wird eingeteilt, außer durch etwas, was zur selben Art gehört. Leben aber wird eingeteilt nach gewissen Thätigkeiten, wie Aristoteles deren vier unterscheidet: Nahrung gebrauchen, fühlen, in Bewegung sein von Ort zu Qrt, auffassen oder verstehen. Also ist das Leben selbst Thätigkeit. II. Das thätige Leben wird unterschieden vom beschaulichen Leben. Beide Arten aber unterscheiden sich nur gemäß gewisser Thätigkeit. Also ist das Leben Thätigkeit. III. Gott erkennen ist Thätigkeit. Das bedeutet aber „Leben“, wie es bei Johannes (17.) heißt: „Das ist das ewige Leben, Dich erkennen etc.“ Auf der anderen Seite sagt Aristoteles: „Leben ist für die lebenden Wesen dasselbe wie Sein.“ (2. de anima.) -
b) Ich antworte, unsere Vernunft (Kap. 17. Art. 3.), deren eigenster Gegenstand das Wesen des vorliegenden Dinges ist, geht in ihrer positiven Kenntnis von den Sinnen aus, deren eigenster Gegenstand im einzelnen immer etwas ist, was außen erscheint, wie Süßigkeit, Farbe, Schall etc. Daher kommt es, daß wir beständig aus dem, was äußerlich erscheint, zur vollen Erkenntnis und Vergegenwärligung des Wesens gelangen. Und weil wir die Dinge auf die Weise benennen, wie wir sie verstehen, so legen wir meist auf Grund dessen, was außen erscheint, dem Wesen selber einen Namen bei. Sonach werden derartige Namen bisweilen im eigentlichen Sinne genommen, nämlich für jene Wesenheiten, zu deren Bezeichnung sie erfunden worden; bisweilen aber werden sie angewendet auf jene äußeren Erscheinungen und Eigenschaften, von denen sie hergenommen sind. Dies ergiebt sich aus dem Worte „Körper.“. Dieses Wort ist erfunden, um eine gewisse Art von Substanzen oder Wesen zu bezeichnen, deshalb weil dieselben immer unter den drei Dimensionen erscheinen. Zuweilen aber wird, freilich uneigentlich, dieses selbe Wort auch gebraucht zur Bezeichnung der drei Dimensionen selbst, insoweit unter „Körper“ eine Art von Quantität im Gegensatze zur Linie, Fläche etc. verstanden wird. Dies gilt nun auch vom Leben. Denn der Name ist genommen von etwas äußerlich Erscheinendem, nämlich vom Sich-selbst-bewegen. Er ist aber nicht erfunden, um dies auszudrücken; sondern die Substanz selbst, der es zugehört, daß sie sich selbst bewege oder sich selbst zu gewisser Thätigkeit bestimme, soll dadurch bezeichnet werden. Und demgemäß heißt „leben“ nichts anderes als in einer derartigen Natur „sein“; und das Leben bezeichnet dieses selbe, nur in einer von Einzelnem losgelösten, in abstrakter Weise; wie dieser Ausdruck „Lauf“ das Laufen selber in abstrakter Weise bedeutet. Sonach ist „lebend“ ein Prädikat, das mit der Substanz des Lebenden gegeben ist und nicht eine dazu nebensächlich hinzutretende Thätigkeit. Bisweilen jedoch wird „leben“ im weniger eigentlichen Sinne genommen für einzelne Thätigkeiten des Lebens, von denen das Wort selber hergenommen worden; und danach bemerkt Aristoteles: „Leben sei an erster Stelle fühlen oder geistig verstehen.“ I. Aristoteles nimmt hier das Wort für Thätigkeiten des Lebens. Oder es kann auch gesagt werden, daß Fühlen, Verstehen bisweilen steht für das Sein selber der Wesen, welche in dieser Weise thätig sind, nicht immer für die Thätigkeit an sich allein. Demnach würde (9. Ethic.) Fühlen, Verstehen heißen: die Natur haben, um zu fühlen, zu verstehen. Und auf diese Weise werden vier Stufen der lebendigen Wesen unterscheiden: Manche lebende Wesen haben nur die Natur, Nahrung zu nehmen und, da dies natürlicherweise daraus folgt, zu wachsen und abzunehmen. Andere haben die Natur, zu fühlen, wie die unbeweglichen Tiere, z. B. Muscheln. Andere noch haben die Natur, sich von Ort zu Ort zu bewegen, wie die vollkommenen Tiere. Andere endlich können vernünftig verstehen, wie die Menschen. II. Lebensthätigkeiten werden jene Thätigkeiten genannt, für welche das den Anstoß gebende Princip im thätigen Dinge ist, so daß das betreffende Wesen sich selbst zu dieser Thätigkeit bestimmt. Nun geschieht es aber auch, daß einzelne Menschen nicht nur solche Principien von Natur aus in sich haben, sondern auch gewisse Neigungen, welche ene bestimmte Art Thätigkeit angenehm machen; und deshalb wird auf Grund einer gewissen Ähnlichkeit gesagt, daß eine solche Thätigkeit, welche dem Menschen angenehm ist und zu weIcher er, wie vermittelst einer zweiten Natur, kraft der innewohnenden Neigung sich wendet, in welcher er also wirkt und sein ganzes Leben einrichtet, sein Leben sei. Deshalb heißt es von den einen, sie führten ein wollüstiges Leben; von den anderen, ihr Leben sei anständig. Und darauf gründet sich der Unterschied zwischen thätigem und beschaulichem Leben. Danach beantwortet sich auch der dritte Einwurf.
