Sechster Artikel. Ein größeres Übel ist die Schuld wie die 5trafe.
a) Dagegen spricht: I. Die Schuld verhält sich zur Strafe, wie das Verdienst zum Lohne. Der Lohn aber hat mehr vom Charakter des Guten, denn er ist dessen Zweck. Also ist auch mehr Übel die Strafe wie die Schuld. II. Was einem größeren Gute gegenübersteht, ist ein größeres Übel. Die Strafe nun ist entgegen dem Wohle des Wirkenden; die Schuld aber nur der Güte des einzelnen Aktes. Da also besser ist der Wirkende wie die einzelne Wirksamkeit, so ist mehr Übel die Strafe wie die Schuld. III. Das Entbehren der Endvollendung selber, der Anschauung Gottes, ist eine Strafe; das Entbehren aber dessen, was nur zum Zwecke dient, ist Schuld. Also ist die Strafe ein größeres Übel wie die Schuld. Auf der anderen Seite ist es Sache des Künstlers, ein kleineres Übel zu veranlassen, um ein größeres zu vermeiden; und auch der Arzt schneidet ein Glied ab, damit er das Ganze erhalte. Die Weisheit Gottes aber straft, damit die Schuld vermieden werde. Also ist die Strafe ein minderes Übel wie die Schuld.
b) Ich antworte, die Schuld sei ein weit größeres Übel wie die Strafe und nicht nur wie die fühlbaren Strafen in dieser Welt, sondern auch inwieweit die Entziehung der Gnade oder der Herrlichkeit gewissermaßen Strafen sind. Davon besteht ein zweifacher Grund: 1. Durch das Übel der Schuld wird jemand schlecht, nicht aber durch das Übel der Strafe; wie Dionysius sagt (4. de div. nom.): „Gestraft werden ist kein Übel; aber der Strafe wert werden.“ Denn das Gute besteht einfach im wirklichen Thätigsein und nicht im Vermögen für die Thätigkeit; das letzte Thätigsein aber ist nicht, daß jemand wirklich und thatsächlich nur ist, sondern daß er wirkt und demgemäß seine Fähigkeiten gebraucht. Wir gebrauchen aber alle Dinge und unsere eigenen Fähigkeiten vermittelst des freien Willens. Deshalb wird der freie Wille, gemäß dem er seine Fähigkeiten und die anderen Dinge gebraucht, je nach dem gut oder schlecht genannt. Denn wer einen schlechten Willen hat, kann sich auch des Guten, was er hat, schlecht bedienen, wie wenn jemand, der gut die Grammatik kennt, freiwillig unzukömmlich spricht. Da also die Schuld im ungeordneten Willensakte selber besteht, die Strafe aber im Entbehren eines jener Dinge, deren der Wille sich bedient, die er nur als Mittel gebraucht, so ist die Schuld in höherem Grade ein Übel wie die Strafe. 2. Gott ist der Urheber der Strafe und nicht der Schuld. Denn die Strafe beraubt eines Gutes, das dem Geschöpfe seiner Seinsstufe gemäß in irgend einer Weise gebührt, sei es im Bereiche der Natur, wie die Blindheit der Sehkraft beraubt, sei es im Bereiche des Ungeschaffenen, wie durch das Entbehren der seligen Anschauung dem Geschöpfe ein ungeschaffenes Gut entzogen ist. Alle solche Güter aber sind Güter des Geschöpfes und bestimmt, demselben zu eigen zu sein. Die Schuld jedoch ist im eigentlichen Sinne entgegengesetzt dem ungeschaffenen Gute. Denn sie stellt sich entgegen der Erfüllung des göttlichen Willens und der göttlichen Liebe, wodurch das göttliche Gut in Sich selber geliebt wird und nicht nur insoweit es der Kreatur mitgeteilt ist. So also ist mehr Übel die Schuld wie die Strafe.
c) I. Wohl folgt die Strafe der Schuld, wie der Lohn dem Verdienste. Aber die Strafe wird nicht als Zweck beabsichtigt vom Schuldigen; sondern vielmehr wird gestraft, damit nicht gesündigt werde. Also ist die Sünde ein größeres Übel wie die Strafe. II. Die Zweckordnung im Handeln, die von der Schuld gestört wird,ist ein vollkommeneres Gut wie das Gut, welches die Strafe fortnimmt. Denn das Gute besteht eben hauptsächlich und an sich im Handeln; nicht aber im bloßen Vermögen zu handeln. III. Es ist da zwischen der Schuld und der Strafe nicht dasselbe Verhältnis wie zwischen dem Zwecke und dem Zweckdienlichen. Denn beides kann sowohl des einen wie des anderen in gewisser Weise berauben, nämlich des Zweckes und der Mittel zum Zwecke. Durch die Strafe nämlich wird der Mensch entfernt vom Zwecke und von dem, was zur Erreichung des Zweckes helfen sollte; durch die Schuld aber wird das Wirken selber der Hinordnung zum gebührenden Zwecke beraubt.
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